Freitag, 11. Juli 2003

Für alle, die noch mehr lesen wollen: Die Vorbereitungsphase

Sheraton Frankfurt  |  Nowosibirsk

Start unserer Tour!

Etwa 70 Müsliriegel verstaue ich lagenweise im Rucksack. Ich hoffe, dass das gerade noch als Eigenbedarf durchgeht. Außerdem sind Zucker, Trockenmilch, Eipulver und Schnellmehl Bestandteil der Ausrüstung. Sollte es dort tatsächlich Blaubeeren geben, ist als einzige weitere Zutat nur ein wenig Lena- oder Kolyma-Wasser erforderlich und der ausgezehrte Reisende kann sich an sibirischen Blaubeerpfannkuchen laben.
Um 13:45 Uhr bin ich in Porz. Keine Zeit mehr für einen gemütlichen Kaffee mit Brigitte, denn wer weiß, wie hoch das Verkehrsaufkommen heute ist? Außerdem müssen wir Jürgen noch abholen und das Zelt ist auch noch nicht verstaut. Nach kurzer Verabschiedung von Brigitte, Nils und Lars brechen wir auf. In Bonn verstauen wir das Zelt in Volkers Rucksack. Resultat: Jürgen hat jetzt nur gut acht Kilo zu schultern. Sandra erkundigt sich nach dem Ort, in den wir wollen. Die Straße ist unser Ziel, so unsere Antwort. Nach wiederum kurzer Verabschiedung sind wir unterwegs nach Frankfurt.

Wir sind nur knapp anderthalb Stunden vor dem planmäßigen Abflug am Check-In-Schalter. Das liegt zum einen am Verkehrsaufkommen am Freitag Nachmittag und zum anderen an der P+R-Regelung am S-Bahnhof Bischofsheim. Wir entschieden uns daher, bei einer S-Bahn-Station weiter entfernt kostenlos zu parken. Nach der Sicherheitskontrolle fummle ich mein Messer aus dem Hauptgepäck, um Volker zu helfen, das Loch für sein Bügelschloss zu vergrößern. Folge: Deutlicher Anranzer der Sicherheitsbeauftragten und nochmaliger Check des gesamten Gepäcks. Fünf Minuten später schleicht Charly mit seinem Rucksack zurück zur Sicherheitskontrolle. Beinahe hätte er seine Daunenjacke im Hauptgepäck gelassen.

Stehen jetzt schon gut 90 Minuten auf dem Rollfeld – es rollt jedoch nichts. Außerdem ist es schweineheiß. Ich döse etwas, die anderen fächern ein wenig mit der "Zeit". Stand an einem der Triebwerke nicht so ein kleiner Kranwagen .......? Meine gedanklichen Mutmaßungen werden jäh von einer Lautsprecherdurchsage in russisch unterbrochen! Von der gesamten Durchsage verstehe ich zwar nur drei Worte: njet – saftra - Sheraton – die reichen jedoch aus, um die Lage richtig einzuschätzen. Als wenn der Flieger gerade eben planmäßig gelandet wäre, nehmen sich die Leute ihr Handgepäck und stellen sich wortlos in den Gang. Kein Fluchen, keine Diskussionen, keine Fragen – nichts!! Ja, ist wohl doch ein Kranwagen, der da am Triebwerk steht! Im Klartext: Heute ist Feierabend – morgen soll es weitergehen; bis dahin werden wir ins Sheraton-Hotel verfrachtet.
"Das gibt eine Fummelei, die kleinen Fläschchen aus der Minibar in unsere große Aluflasche zu füllen", scherzt Jürgen unmittelbar nach der Durchsage. Unser Gelächter hält sich logischerweise in Grenzen; aber es zeugt von Jürgens Gabe, sich blitzschnell auf neue Situationen einstellen zu können und natürlich das Beste daraus zu machen.

Charly schaut etwas machtlos drein! Jede Flugverbindung zwischen Novosibirsk und Wladivostok hat er im Kopf bzw. kann sie binnen kurzem nachschlagen (außerplanmäßige Landung wegen eines Waldbrandes in der Taiga – kein Problem, Charly hätte ein Alternative) – aber das wir schon in Frankfurt den Arsch nicht hochbekommen, konnte er wirklich nicht ahnen. Die Gründe hierfür liegen jedoch klar auf der Hand: Kein Abflugbier getrunken und die Schuhe schon vor dem Start ausgezogen! Zwei Fehler werden nicht verziehen.
Wir haben die Wahl: Entweder zurück nach Köln zu fahren oder eine Nacht im Sheraton zu verbringen. Wir wählen das Sheraton. Nach einigem Warten und mehrfachen Passkontrollen stehen wir um halb zehn vor der Rezeption. Etwa 100 bis 120 Leidensgefährten warten mit uns.

Es sind viele Russlanddeutsche mit Kindern darunter, die ihre Verwandten in Sibirien besuchen wollen. Es dauert eine weitere Stunde, bis die ersten Zimmerschlüssel verteilt werden. Wahrscheinlich musste noch über den Preis verhandelt werden.

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Ein Tee im Sheraton ...

Pling - der Thermoschalter des Wasserkochers hat abgeschaltet. Charly kommt mit dem zweiten Kocher zur Tür herein. Während wir auf das Abendessen warten, trinken wir Tee. Viel haben wir noch nicht geschafft, doch in der Ruhe liegt die Kraft. Nach einigen Irrwegen durch die Katakomben des Hotels finden wir den richtigen Speisesaal. Tortellini mit Pilzsauce und Salat – schmeckt recht passabel. Das Sheraton in Frankfurt ist ein riesiger Kasten – ein Tagungshotel mit über 1000 Zimmern. Am Wochenende ist jedoch fast nichts los. Es scheint, dass wir von Sibirian Air die einzigen Gäste sind. Das mit dem Abflugbier erledigen wir vorsichtshalber gleich noch in der Nacht. Gegen 1:00 Uhr schlendern wir in eine Flughafengaststätte im Tiefgeschoss.

Samstag, 12. Juli 2003

Um halb acht klingelt das Telefon. Allgemeiner Weckruf für die Sibirian Air Passagiere. Nach dem Frühstück – es gibt ausschließlich Süßkram – versuchen wir herauszufinden, wie wir in Novosibirsk wegkommen – sprich, wann ein Anschlussflug geht. Vielleicht läßt sich alles schon in Frankfurt regeln? Viel bekommen wir jedoch nicht heraus. Unser Flieger soll immer noch (kaputt?) auf dem Rollfeld stehen – und ein offizieller Vertreter von Sibirian Air ist schon gar nicht aufzutreiben. Als Abflugzeit steht 12:00 Uhr im Computer. Das Mädel an der Information hierzu: " Also das ist so eine Passagier-Beruhigungszeit, die die da einfach mal eingetragen haben." Entwaffnend ehrlich! Das da möglicherweise etwas dran ist, bestätigt ein Blick auf die Abflugtafel. Dort steht kein Flug von Sibirian Air drauf.

Um 11:00 Uhr dackeln wir wieder zurück zum Hotel - dringende Geschäfte. An der Rezeption bestätigt man uns 14:00 Uhr als Abflugtermin. Und irgendwie – mit einer Portion russischer Gleichmütigkeit – geht alles seinen Gang. Zwar nicht um 14:00 Uhr, aber immerhin um 16:00 Uhr sitzen wir im Flugzeug. Es ist der Flieger vom Vortag; mein zusammengerolltes Bonbonpapier im Aschenbecher beweist es.

Sonntag, 13. Juli 2003

Um 4:00 Uhr Ortszeit landen wir in Nowosibirsk. Ist doch schon mal was! In der Warteschlange vor der Passkontrolle kommen wir mit einem Deutschen ins Gespräch. Er baut Brauereianlagen in Russland und wohnt in Tomsk, etwa 250 Kilometer nordöstlich von Nowosibirsk. Er reist für eine deutsche Firma in Sachen Bier quer durch Russland. In Norilsk war er übrigens auch schon. Er schimpft vehement auf die Unzuverlässigkeit der russischen Flugpläne und legt uns nahe, doch mal im Deutschen Konsulat in Nowosibirsk vorbeizuschauen. Angeblich freut sich der Konsul über jede Begegnung mit Deutschen.

Für uns hat jedoch etwas anderes Priorität: So schnell wie möglich nach Jakutsk! Und so stehen wir sofort nach Erhalt des Gepäcks am Schalter von Sibirian Air. Dort teilt uns eine Dame lapidar mit, dass es für uns erst morgen weitergeht. Charly stellt diese Aussage ganz und gar nicht zufrieden – und uns natürlich auch nicht. Immerhin haben wir von unserer nun wirklich knapp bemessenen Zeit schon 2 Tage "vertrödelt" und jeder macht sich seine Gedanken: Schaffen wir es noch, oder suchen wir einen Badestrand am Ob und geben unseren Plan auf? Eine rein rhetorische Frage, denn an Aufgeben denken wir nicht im Entferntesten. Erst als wir nochmals versichert bekommen, dass heute weder ein Flug nach Jakutsk noch einer nach Magadan geht, lassen wir uns den Umbuchungsstempel für morgen auf die Tickets setzen. Wir folgen einem jungen Burschen ins nahe gelegene "Sheraton". Kostenlose Übernachtung in einem halbwegs passablen Vierbettzimmer. Jürgen würde sicherlich noch Geld bezahlen, wenn er nur endlich im Wald schlafen könnte.

Mit dem Bus fahren wir ins 30 Kilometer entfernte Nowosibirsk, mit 2 Mio. Einwohnern die viertgrößte Stadt Russlands. Sie wurde erst 1893 gegründet. Man suchte eine Stelle, an der man den mächtigen Ob überqueren konnte. Nowosibirsk wurde im Laufe der Zeit zum Knotenpunkt der gesamten Transsib. Der Bahnhof hier ist der größte in ganz Sibirien. Er soll von außen die Konturen einer Lokomotive haben – erkennbar ist das für uns jedoch nicht. Wir laufen durch die Bahnhofshalle. Viel ist in Marmor und Granit gehalten. Riesige Kronleuchter zieren die weißen Stuckdecken. Anschließend beobachten wir den Zugverkehr auf einer die Gleise überspannenden Stahlbrücke. Die Bahnsteige sind bis auf die ein- und aussteigenden Reisenden leer. Keine alten Mütterchen die getrockneten Fisch, Brot und Obst anbieten. Das Flair von Slyudanka am Baikal fehlt hier.

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Der Bahnhof von Nowosibirsk, wichtiger Knotenpunkt der Transsibirischen Eisenbahn.

Unsere ersten Anlaufstellen in der Stadt sind die Sibirian Air Büros. Charly will einige Optionen bezüglich unserer Weiterreise ausloten: Gibt es einen Flug von Magadan nach Nowosibirsk – kann der Flug von Wladivostok nach Nowosibirsk gecancelled werden und einige andere Fragen. Über diese Aktion trifft Volker und Jürgen im letzten Sibirian Air Büro absolut zeitgleich der heimtückische sogenannte "doppelte Deadpoint". Während Charly und ich am Tresen stehen und versuchen, der nur russisch sprechenden Dame unsere Absichten verständlich zu machen, belegen die zwei die einzige Sitzgruppe im Raum und sind Sekunden später nicht mehr ansprechbar. Das Bild wird durch den mit offenen Augen dösenden Wachmann neben der Eingangstür abgerundet. Kaum zu beschreiben und auch nicht wirklich real auf Film festzuhalten.
Ach ja, wenn auch nicht in chronologischer Reihenfolge erwähnt, zwei Museen besuchten wir in Nowosibirsk auch noch. Eines für Naturkunde (ich glaube, ich hätte mehr Schiss, einem Elch im Wald zu begegnen, als einem Bär) und eines für Geschichte. Nach den Museen gönnen wir uns eine Pause in einem Park. Zweimal Schaschlik, dazu ein Bier oder eine Cola. "Wieder so ein 100 US $-Tag in Sibirien?" Diese Frage stelle ich, als Jürgen zwei weitere Flaschen bestellt. Ich denke da an unseren letzten Tag in Irkutsk im vorigen September – da sind 100 US $ binnen 12 Stunden förmlich verdampft.

Vom Bahnhof laufen wir hinunter zum Ufer des Ob. Der Ob ist hier schätzungsweise drei mal so breit wie der Rhein bei Köln. Ebenso verfügt Nowosibirsk über breite Straßen und große Plätze. Permafrostbauten - erkennbar an den Betonsäulen, die etwa 2 m aus der Erde ragen - sucht man hier vergebens. Trotz des Namens, wir sind noch nicht im tiefsten Sibirien. Nowosibirsk liegt ungefähr auf der Höhe von Hamburg.

Meine Uhr scheint die Zeitverschiebung nicht verkraftet zu haben. In einem GUM finde ich eine Uhrenecke. Ich reiche die Uhr einem jungen Burschen und murmele etwas von Batteria. Aber die Batterie ist in Ordnung, wie er kurze Zeit später feststellt. Er spannt die Uhr in eine Art Minischraubstock und beäugt sie durch eine Lupe – schraubt mal hier, pinselt mal da – zieht den Stellstift heraus und setzt ihn wieder ein. Das ganze dauert gut 10 Minuten. Meine anschließende Frage, was er denn jetzt dafür bekomme, wird in einer Art beantwortet, die es verbietet, einige Rubel auf den Tisch zu legen. Mit einigen "spassiba bolschoi" verabschiedete ich mich. Eine neue Batterie hätte ich bezahlen müssen, seine Arbeitszeit jedoch nicht! Soviel zur "Servicewüste" Russland.

Mit dem Minibus fahren wir am späten Nachmittag zurück ins "Sheraton". Es ist schwer, auf der einstündigen Fahrt durch die Außenbezirke von Nowosibirsk die Augen offen zu halten. Volker behauptet, als einziger die gesamte Strecke sehenden Auges bewältigt zu haben. Wir können es nicht widerlegen. Je näher wir dem Flughafen kommen, desto dörflicher wird der Charakter der Stadt. Die großen typischen russischen Vorstadtblocks weichen einfachen Holzhäusern, die von gepflegten Gemüsegärten umgeben sind. Gemüse ist gut – etwa 90 Prozent der Gartenflächen sind mit Kartoffeln bepflanzt.

Von 19:00 bis 21:00 Uhr veranstalten wir eine Art Picknick auf einer Bank in Flughafennähe. Die heute gekauften Sachen - Kekse, eine Art Kartoffelteilchen, geräucherter Fisch, Brot, Wasser und natürlich Wodka - werden ordentlich auf der Bank ausgebreitet. Jürgens Vitamintrunk ist in jeder Ecke der Welt und in jeder Situation obligatorisch. Es schwirren zwar einige Mücken um uns herum – einige stechen auch – aber insgesamt sind sie keine Plage. Charlys "Imkerausrüstung" bleibt verstaut, ein paar Spritzer Autan hält sie auf Distanz. Um 22:00 Uhr liegen wir auf den Schlafsäcken. So ein "Fehlstart" ist schon anstrengend.


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