Die Vorbereitungsphase

Eigentlich sind Jürgen und ich schon auf Norwegen eingestellt! Mit dem eigenen Auto hoch, Verpflegung natürlich dabei – ist ja teuer dort oben – vielleicht irgendwo ein Kanu leihen und die Angel in einen lachsverseuchten Fluss halten. Charlys Vorbereitungsarbeiten könnten sich darauf beschränken herauszufinden, ob auf der noch festzulegenden Route das ein oder andere Troll- oder Torfmuseum in erreichbarer Nähe liegt.
Aber wenn der erste Satz schon mit "eigentlich" beginnt! Was soll ich sagen? Wahre Jubelstürme löst dieser Vorschlag bei den potentiellen Mitreisenden nicht aus. Charly ist von unseren Vorschlägen - Alaska ist auch noch im Gespräch – von Anfang an nicht sonderlich angetan, um es einmal milde auszudrücken. "Euroland – da gibt es doch nur asphaltierte Straßen – jeder Feldweg ist in den Karten verzeichnet und die Wölfe und Bären sind handzahm – da wollt ihr doch nicht wirklich hin, oder?" "Eh, nun ja – ehm, nicht unbedingt, stottern Jürgen und ich – du hast natürlich völlig recht, Charly!" Dass Norwegen nicht Euro, sondern noch Kronen als Zahlungsmittel hat, sei nur der Chronistenpflicht halber angemerkt – ein Argument dafür ist es nicht.
Volker hält sich bei dieser Diskussion auffallend zurück. Nach einer längeren Denkpause und einigen Billiardpartien schwärmt Charly von unserer letztjährigen Baikal-Mongolei-Tour. Volker lehnt sich entspannt zurück und lächelt zufrieden. Als dann auch noch ein Gläschen Wodka eingegossen wird, ist uns allen klar: Russland hat mehr Unwägbarkeiten zu bieten als Norwegen und Alaska zusammen.

Flugs unterbreitet uns Charly dann seine beiden Tourvorschläge: Trekking, Höhlen und Felszeichnungen im Ural und den sogenannten Kolyma Highway im Fernen Osten. Beiläufig erwähnt er noch Spitzbergen und die als Polarbahn bekannte, von Stalin bis 1953 gebaute, aber niemals in Betrieb genommene, Eisenbahnstrecke im Norden Russlands. Zu diesem Zeitpunkt ist längst klar: Norwegen und Alaska müssen warten.
Als Volker dann noch sehr aufmerksam mit dem Finger den Straßenverlauf des Kolyma Highways auf der Karte nachzeichnet, kristallisiert sich auch ohne weitere Worte die von Charly vorgeschlagene Variante als diesjähriges Ziel heraus. "Etwa 1.900 Kilometer – von Jakutsk nach Magadan – nahezu komplett unbefestigt," fügt Charly noch gut vorbereitet hinzu! Tja, so einfach ist das mit unserer Entscheidungsfindung.
Der Kolyma Highway – die Straße der Knochen, wie er auch genannt wird, wurde von Zwangsarbeitern während der Stalinzeit gebaut. Anlass waren die reichen Goldvorkommen in dieser Region. Unzählige Gulagarbeiter sind beim Bau der Trasse umgekommen. Ihre Körper wurden als "Baumaterial" verwendet. Und ich dachte die Straße der Knochen heißt so, weil dort so viele Mammutknochen gefunden wurden. Nun ja, ein Mammutprojekt ist es auf jeden Fall gewesen.
Aber Schluss mit dem Sarkasmus, die Geschichte darüber ist traurig genug!

So richtig ergiebig sind die Informationen zunächst nicht, die wir im Internet finden. Die meisten Beschreibungen über die Region zwischen Jakutsk und Magadan beziehen sich auf Reisen im Winter. Und eine Winterstraße ist im Sommer meist nicht zu befahren. Ob die gesamte Strecke zwischen Jakutsk und Magadan auch im Sommer durchgehend zu befahren ist, bekommen wir daher auch nicht heraus. Doch wenn man nur lange genug sucht, landet man mit ein wenig Glück den einen oder anderen Treffer. Charly landet einen solchen: Er stöbert den "Siberian BAM Guide" auf. BAM-Guide? Wir wollen doch nicht mit der Eisenbahn fahren. Aber Charly hat intuitiv einfach die richtigen Stichworte in der Suchmaschine eingegeben. Und wirklich, der Untertitel dieses, in der Hauptsache die Baikal-Amur-Magistrale beschreibenden Buches, läßt aufhorchen: "Includes North-East Russias Siberian Railway, Lena River & Kolyma Highway"! Tataa!!

Eine halbe Stunde nachdem Charly dies gelesen hat steht Jürgen bei Gleumes, einem sehr gut sortierten Karten- und Reiseführerladen in Köln, auf der Matte. Volltreffer – unsere Straße wird darin, eingeteilt in mehrere Abschnitte, recht ausführlich beschrieben. Mehr Informationen werfen natürlich auch mehr Fragen auf; und so nehmen wir per E-Mail Kontakt mit einem der Autoren auf. Wir erhalten prompt Antwort. Nicholas Zvegintzov lebt derzeit in New York und bittet uns, wenn wir denn in den Fernen Osten reisen, seinerseits um Informationen. Er stellt einen Kontakt zu einem gewissen Paul Geldhof her, der derzeit wohl auch eine Tour auf dem Kolyma Highway plant. Er warnt uns vor den sogenannten Maskas – kleinen, in Schwärmen auftretenden schwarzen Fliegen, die unangenehm beißen. Moskitos sind nichts dagegen. Nun denn, Maskas hin, Moskitos her – auch aus den weiteren Informationen der beiden läßt sich nicht zweifelsfrei entnehmen, ob die Straße derzeit durchgängig zu befahren ist. In einem anderen Bericht von 1997 steht, dass auf der Strecke Tomtor – Ust-Nera die meisten Brücken fehlen. "Das war vor 6 Jahren," so Charly vehement! "Traust Du den Russen denn gar nichts zu?" Sprachs und gießt ein Gläschen Wodka ein: "Auf die russischen Ingenieure!"

Eine weitere Angelegenheit, die ebenfalls eine Reihe von E-Mails erfordert, ist die Flugreservierung Magadan – Wladivostok. Ein gewisse Valentina von Magadan Airlines soll dies für uns regeln. Oder war es Antonia? Ne, das ist doch die vom Baikalsee, oder? Egal, Charly und Volker haben hier das Zepter in der Hand und so wird das schon hinhauen mit der Reservierung. Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass unser Hauptfluggerüst schon steht: Es geht von Frankfurt über Novosibirsk nach Jakutsk und zurück von Wladivostok wieder über Novosibirsk nach Frankfurt. Die Strecke Magadan – Wladivostok läßt sich von Deutschland aus nicht direkt buchen, daher diese Aktivitäten.

Der gesamte E-Mail Verkehr läuft über Volker. Fast täglich laufen E-Mails ein und gehen raus. Da sind noch die drei Susumaner, die zwar alle nicht mehr in der Region leben, uns aber nach Kräften mit Informationen versorgen. Umgekehrt geben wir an, auf welcher Route und zu welchen Zeiten wir beabsichtigen dort unterwegs zu sein. Charly wird ob unserer leutseligen Mitteilsamkeit etwas nachdenklich: "Vielleicht stehen sämtliche Schurken und Tagediebe der Gegend als Empfangskomitee bereit, wenn wir dorthin kommen?" Volker, Jürgen und ich sind da etwas gutgläubiger. Warum sofort an das Schlechteste denken. Haben wir doch bisher fast ausnahmslos gute Erfahrungen in Russland gemacht! Und so endet unsere E-Mail-Kommunikation mit der Einladung für einen Susumaner nebst Frau nach Köln, inklusive Übernachtung und Besichtigungsprogramm. Besagter Susumaner lebt in St. Petersburg und wird fast zur gleichen Zeit, während wir im Fernen Osten unterwegs sein werden, mit dem Auto durch Europa fahren. Wir schlagen vor, dass sie uns ja am Flughafen abholen können – ein Blick auf Volkers Homepage genügt, um uns zu erkennen. Leider wird dieses Treffen nicht zustande kommen, da sie schon wieder in Richtung St. Petersburg unterwegs sein werden, wenn wir in Frankfurt landen.

Noch mehr Respekt als vor den Unwägbarkeiten der Piste haben wir vor den Moskitos und den Fliegen. Jedenfalls bringt Charly ernsthaft eine Art Imkerausrüstung ins Gespräch. Aus einem alten Moskitonetz hat er sich eine Art luftigen Netzponcho gebastelt – bestens dazu geeignet, um bei +35 °C von den Viechern unbehelligt, durch die Taiga zu laufen. "Bei +35 °C lassen sich die bestimmt nicht blicken", werfe ich ein. Ein Kopfnetz packen wir jedoch alle ein. Jürgen besorgt zusätzlich noch Vitamin B1-Pillen als Passivschutz. Nach Einnahme soll man zwar ein wenig riechen, besonders wenn man dazu noch schwitzt, doch das nehmen wir in Kauf. Nicht dass das Zeug die kleinen Plagegeister auf Distanz hält, dafür aber größere - sprich Bären und Wölfe - in Scharen anlockt. Auf dem Beipackzettel steht jedoch nichts dergleichen.
Es lassen sich problemlos noch mehrere Seiten mit unseren Vorbereitungsmaßnahmen füllen. Aber man kann es auch abkürzen. Zu erwähnen sind noch Volkers gigantische Plotterausdrucke des Verlaufs des Kolyma Highway im Maßstab 1: 500.000 und der Busfahrplan von Susuman bis Magadan in russischer und polnischer Sprache. Aber wie schon gesagt: Wie kommen wir nach Susuman?

Auf Jürgens Geburtstag am 3. Juli und auf einem Grillabend eine Woche später in Köln-Porz werden die letzten eingetroffenen E-Mails durchgesprochen. Im Prinzip gibt es nichts Neues. Sieht man einmal davon ab, dass man schon das Datum interpretieren muss, wenn zur gleichen Uhrzeit eine E-Mail aus Magadan und eine, jenseits der Datumsgrenze, aus Anchorage eintrifft. Charly durchforstet das world wide web bis zur letzten Minute. Dabei stößt er (zufällig?) auf das Foto einer gewissen Lena. Also ich weiß beim besten Willen nicht, wo ich die jetzt hinstecken soll! Ich glaube, einzig Charly blickt bei unseren sibirischen E-Mail-Bekanntschaften noch durch.
Wißt ihr eigentlich, dass Jakutien die größte Museumsdichte der gesamten östlichen Hemisphäre haben muss? Nein? Dann lest schleunigst nochmal den von Charly ausgearbeiteten Reiseablauf!


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