In der Administration  |  Kaffee bei Tatjana  |  "We don´t stop in Kureika" 

Montag, 12. September 2005

Kein Stopp in Kureika – Ticket nach Igarka

Den sibirischen Sommer scheinen wir gestern verabschiedet zu haben. Es ist windig und es sieht nach Regen aus. Mal sehen ob wir trotz der gestrigen Suppenpanne wieder die leckeren Blinis zum Frühstück bekommen. Sieht nicht so aus – die Küche ist verwaist! Dabei hätten wir ein Friedensangebot zu machen: Vier Riesenkartoffeln und eine Tüte voller Fische!
Die Sachen sind eindeutig zu schwer um sie mitzuschleppen. Außerdem würde Volker wohl gegen die Fischtüte intervenieren, musste er doch gestern schon während des sibirischen Fischessens prophylaktisch in einen Müsliriegel beißen.
Jetzt tut sich doch was in der Küche. Flugs nehmen wir unsere angestammten Plätze am Tisch ein. Es gibt Blinis mit Marmelade, Tee und Kaffee. Die anderthalb Kilo Fisch und die Kartoffeln reiche ich unserer Köchin nach dem Frühstück über die Theke. Geschenk aus Stary Turuchansk. Sie nimmt alles lächelnd entgegen.

Wir beschließen noch zwei weitere Spiritusfläschchen zu kaufen. In der Apotheke ernten wir ein freundliches, aber unmissverständliches Kopfschütteln von der Apothekerin. In einem anderen Magazin schauen die beiden Verkäuferinnen verstohlen zu Boden und tuscheln untereinander als wir uns zum Gehen wenden. Letztendlich bekommen wir die zwei Flaschen in dem Magazin, wo wir gestern die eine gekauft haben. Die wissen bereits, das wir das Zeug brauchen! Es ist Montag Morgen und die Administration ist geöffnet. Schaun wir also mal bei der Bürgermeisterin vorbei. Wir sind Touristen und möchten gerne jemanden sprechen, der Deutsch oder Englisch spricht. Da fällt uns ein, das wir diesen Jemand ja schon haben. Wir haben uns mit Stefan um 11 Uhr vor einem Museum verabredet und jetzt ist es 10:45 Uhr. Jürgen übernimmt die Aufgabe Stefan hierher zu holen.

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In der Administration in Turuchansk scheinen Kureika und Jermakowo für uns wieder näher zu rücken.

Währenddessen sitzen Volker und ich schon bei Gebäck und Tee im Büro der Bürgermeisterin. Es ist ein geräumiges Büro – ein Bild von Putin und die Nationalflagge hinter dem wuchtigen Holzschreibtisch sind obligatorisch. In einem Regal steht ein goldenes Modell einer Ölpumpstation.
Allem Anschein nach ist man sichtlich bemüht einen Dolmetscher aufzutreiben. Wir zeigen einem Mitarbeiter die Visitenkarte von Stefan und geben zu verstehen, dass dieser gleich komme. Kurze Zeit später trifft Jürgen mit Stefan ein.
Kurz und knapp stellen wir dar, dass wir einige Tage in Jermakowo unterwegs sein wollen und spätestens am 18. September in Igarka sein müssen. Der Mitarbeiter der Administration bringt Kureika ins Spiel. Die Diskussion verlagert sich daraufhin vor eine große Landkarte an der Wand. Er schlägt uns vor mit dem Schiff nach Kureika zu fahren. Von dort könnten wir mit einem kleinen Boot nach Jermakowo und nach 3 oder 4 Tagen wieder zurück nach Kureika fahren. Die Administration in Kureika würden sie informieren und bitten uns zu unterstützen. Klingt zu schön um wahr zu sein; das ist genau das, was wir wollen!

Alles wird von Stefan in einer Art Empfehlungsschreiben für Kureika festgehalten. Unterdessen versuchen sie Funkkontakt mit Kureika aufzunehmen, eine Telefon-verbindung gibt es nämlich nicht. Das klappt jedoch nicht auf Anhieb. Wir vereinbaren in ein paar Stunden nochmals vorbeizukommen um zu sehen was sich ergeben hat. Das Schiff hat Verspätung. Wieviel Stunden genau bringen wir nicht in Erfahrung. Es soll aber heute noch kommen. Mit Stefan gehen wir nochmals in das kleine Museum. Zusammen mit der Museumsführerin spazieren wir in ein weiteres Holzhaus in unmittelbarer Nähe. Hierbei handelt sich um das Wohnhaus von Jakow Sverdlov, der auch hierher verbannt wurde. Quasi ein "Kumpel" Stalins. Stalin soll sich des öfteren in diesem Haus aufgehalten haben.

Danach fahren wir zu Volkers Vergnügen mit dem Bus bis zur Endstation und wieder zurück. Die Leute im Bus sind alle auffällig gut gekleidet. Vor allem die Frauen sehen aus wie aus dem Ei gepellt. Sie hatten Mittagspause und sind jetzt wieder auf dem Weg zur Arbeit, sagt uns Stefan.
Kurze Zeit später stapfen wir durch den lichten Birkenwald. Stefan hat uns überredet mit ihm im Wald Pilze zu suchen! Auch so kann man sich die Zeit vertreiben. Wir haben nicht den richtigen Blick für die Pilze: Während Stefan fast eine Plastiktüte voll hat, haben wir zusammen nur zwei entdeckt. Volker achtet mehr auf die Vielfalt der Pflanzen auf dem Waldboden und ich probiere lieber die ein oder andere Blaubeere. Stefan ruft die Administration an: Die haben in Kureika noch immer keinen erreichen können. Auf einem kleinen Markt unter freiem Himmel kaufen Volker und ich je eine Wollmütze. Volker liebäugelt sogar mit einem Paar Gummistiefel. Die lila Stiefelchen mit dem gelben Innenfutter, die wir in einem Magazin entdecken, haben sogar die richtige Größe. Trotzdem Jürgen und ich beteuern, dass die Dinger super mit dem roten Poncho harmonieren, bleibt Volker standhaft.

Schauen dann nochmal in der Administration vorbei und stellen ein neues Glas Nescafé auf den Tisch in der Hausmeisterinnenbude. Bei unserem ersten Besuch dort haben wir den letzten Kaffee weggetrunken. Stefan will uns gegen 20:00 Uhr am Anleger verabschieden. In einer Bank in Turuchansk (wir vermuten es ist die einzige) tauschen wir 30 € gegen 1038 Rubel.
Essen in unserer Gastinitza oder Sauna? In der Nähe des Fähranlegers gibt es eine öffentliche Sauna. Volker und ich schauen mal rein. Gut, kein "La Paloma-Standard", aber ein Handtuch hätten wir von den fünf Saunagästen wohl geliehen bekommen. Aber, mit nassem Kopf im pfeifenden Wind am Anleger auf das Schiff warten, muss nicht sein. Wir entscheiden uns für das Essen. Auf dem Weg zum Abendessen treffen wir Tatjana, die Hausmeisterin aus der Administration. Die wirkliche Chefin des Ladens, läd uns auf "unseren" Kaffee in die Administration ein. Das können wir nicht ablehnen.

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Zum Kaffee bei Tatjana in der Administration

Beim Abendessen in der Gastinitza diskutieren wir unsere Möglichkeiten der weiteren Reisegestaltung. Außer dem heutigen Dampfer gibt es nur noch zwei Schiffe, die uns von Kureika bzw. Igarka weiter nach Dudinka bringen können. Das engt unseren Spielraum doch arg ein.
Es gibt drei Varianten:

  1. Anlanden in Kureika – 2 Tage Jermakowo – mit dem ersten Schiff von Kureika weiter bis Igarka – mit dem letzten Schiff bis Dudinka
  2. Anlanden in Kureika – 4 Tage Jermakowo – mit dem letzten Schiff von Kureika weiter bis Dudinka
  3. Mit dem heutigen Schiff direkt bis Igarka – mit dem letzten Schiff bis Dudinka

Variante 2 (das was wir eigentlich wollen) ist natürlich mit dem größten Risiko behaftet. Wenn wir aus irgend einem Grund das letzte Schiff verpassen, hängen wir in Kureika fest! Und Gründe dafür lassen sich eine ganze Reihe nennen. Wir diskutieren gut zwei Stunden über die Risiken und Abhängigkeiten und kommen letztlich zu dem Ergebnis gemäß Variante 1 zu verfahren. Die aufkommende Grundsatzdiskussion bezüglich der generellen Zeitproblematik auf vielen unserer Touren führen wir nicht zu Ende.
Übrigens, die kleine Raketa gehört zu den Boxern, die gestern und heute an dem Turnier teilgenommen haben. In unserer Gastinitza treffen wir auf den Gewinner und sogar auf den derzeitigen IBF-Weltmeister Sergej Baschkirow.
Um 19:30 Uhr sind wir am Anleger. Pünktlich um 20:00 Uhr taucht Stefan auf. Irgendwie kommen wir noch einmal auf das Thema Bezahlung. Wir deklarieren die 400 Rubel, die wir Stefan noch geben kurzerhand als Spende an das Museum.

turu33.jpg (133775 Byte) Am Anleger:
Unser Schiff nach Igarka hat einen halben Tag Verspätung

Jürgen steht der Sache mit dem Geld eher skeptisch gegenüber. Er findet die 800 Rubel, die Stefan für seine Dienste gefordert hat, nicht unbedingt angemessen. Volker und ich sehen das nicht so. Man weiß klar wo man dran ist und letztlich war der Trip nach Alt-Turuchansk sein Geld wert. Das der gute Mann ein paar Rubel verdienen möchte, ist doch nicht verwerflich. Und nebenbei haben wir interessante Gespräche mit ihm geführt.
Unser Schiff legt um 22:30 Uhr an! Ein gut 100 m langer Pott. Sieht aus wie ein großer alter Rheindampfer. Wie sich später herausstellt, wurde er 1953 in Wismar gebaut. Kaum hat das Schiff festgemacht, stürmt eine ganze Horde junger Männer auf das Schiff – alles Träger, wie sich kurz darauf herausstellt. Denn es handelt sich nur auf den ersten Blick um ein Passagierschiff! Wir platzieren uns neben der Treppe auf dem ersten Oberdeck und schauen staunend zu was alles aus dem Schiff geschleppt wird: Im Laufschritt verlassen Melonen Zwiebeln, Apfelsinen, Tomaten, Fernseher und Konserven in großen Mengen das Schiff. Insgesamt dauert es fast zwei Stunden bis der Strom langsam versiegt. Am Anleger wartet schon die Auto- und LKW-Armada auf den Weitertransport. Doch zunächst stehen sämtliche Waren auf dem Anleger hinter dem geschlossenen Tor. Ausgabe wahrscheinlich nur gegen Vorlage der richtigen Papiere!

Als der Trubel vorbei ist und das Schiff abgelegt hat, begeben sich Volker und ich in die Kabine des Zahlmeisters ein Deck tiefer. Dreimal Kureika, einfache Fahrt, so sinngemäß Volker zum Zahlmeister! Zuerst verstehen sie überhaupt nicht was wir gesagt haben. Aber als wir mehrfach beteuern nach Kureika zu wollen, sind sowohl Maat als auch Zahlmeister leicht irritiert. Auch die zwei Mädels in der Zahlmeisterkabine schmunzeln. "Kureika? What do you want in Kureika? Kureika is Russia extreme", entgegnet uns der Zahlmeister. Erstaunen allenthalben, ob unseres Wunsches dort abgesetzt zu werden.

Als wir mehrfach beteuern, dass wir es ernst meinen und sie es uns langsam auch abnehmen, macht der Maat den Vorschlag, uns auf dem Rückweg in Kureika abzusetzen – natürlich nur wenn es das Wetter zulässt. Das verstehen wir nicht sofort und beteuern nochmals schon in einigen Stunden – also auf der Hinfahrt – dort abgesetzt zu werden.

Der Kapitän des Schiffes ist anscheinend dafür verantwortlich, dass Leute, die er irgendwo absetzt, von ihm oder einem anderen Schiff auch wieder aufgenommen werden. Das ganze wird per Funk sichergestellt.Als wir uns gerade weitere Argumente zurechtlegen, taucht plötzlich der Kapitän auf. Er beendet unsere Diskussion kurz und knapp mit den Worten: "We don´t stop in Kureika – storm"!! Nachfragen erübrigen sich, denn er ist sofort wieder verschwunden.

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Als Passagier ohne Kabine kommt man zwangsläufig mit Leuten in Kontakt...

 

oder auch nicht!

Tja, damit ist die Sache wohl klar: Dreimal Igarka – einfache Fahrt! Einfache Fahrt heißt übersetzt Holzklasse! Zwei Holzbänke (1,45 m lang und 45 cm breit) und ein Plastikstuhl bilden unser Basislager. Mehr Komfort ist in Klasse 4 nicht drin. Zwei von uns können es sich auf der Bank "bequem" machen und einer wacht auf dem Stuhl. Es zieht gehörig durch die Türritzen und der Kahn schwankt leicht. Hat der Käptn wohl doch recht! Mit all unserem Rödel jetzt in ein kleines Boot umzusteigen, erscheint schon etwas surrealistisch.
Wir diskutieren mit einigen Mitreisenden über die verbleibenden Möglichkeiten doch noch nach Jermakowo zu kommen. Einer macht uns den Vorschlag, doch in Goroshika auszusteigen – das liegt noch vor Kureika und ist auch in unserem Plan als Station aufgeführt. Neben unseren Holzbänken steht ein in Folie verpacktes Sofa, das für Goroshika bestimmt ist.
Wir sind jetzt ungefähr auf der Höhe des Polarkreises. Und darauf muss man bekanntlich anstoßen. Entgegen unseren Informationen gibt es wohl doch ein Restaurant auf dem Schiff. Ich finde es auch und wir können mit drei Baltika auf den Polarkreis und den Jenissej gleichermaßen anstoßen. Jetzt liegen Volker und Jürgen auf den Bänken. Ich schreibe etwas und lese einen Teil der ZEIT. Es ist nicht viel los in den Gängen – viele "Klasse 4-Passagiere" scheint es nicht zu geben.


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