GULag-Suche in Stary-Nadym  |  Exkurs: Standortbestimmung  

Dienstag, 7. September 2004

07:30 Uhr. Mal kein Regen, aber tiefhängende Wolken und Wind!
Wir haben gestern dem Sohn von Maria am Telefon gesagt, dass wir heute mit Irina nach Stary Nadym (Alt-Nadym) fahren. Jürgen beteuert, er habe auch klar verstanden, dass er dies Maria ausrichten soll. Trotzdem schlägt Charly vor, Maria doch nochmals anzurufen. Sie ist zu Hause und der Sohnemann hat ihr natürlich nichts ausgerichtet. Sie will um 10:00 Uhr vorbeikommen, es gäbe neue Informationen. Außerdem wird sie das Taxi abbestellen.
Die neuen Informationen beschränken sich darauf, dass es auf unserer Strecke Wölfe und Bären geben soll. Von Begegnung
en der Tiere mit Menschen kann sie nicht berichten.

Um 10:30 Uhr fahren wir mit Irina und einem Fahrer in einem Geländewagen nach Stary Nadym. Unser Ziel ist Reste eines GULag zu finden. Sie setzten uns vor einer kleinen Siedlung mit dem Hinweis ab, dass es in 300 m Entfernung solche Lagerreste geben soll. Wir marschieren etwa eine Stunde kreuz und quer durch den lichten Wald, finden jedoch nichts was eindeutig auf ein ehemaliges Lager hinweist.

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Die Sonne zaubert sofort eine andere Stimmung: Tundra in der Nähe von Alt-Nadym

Dann besinnen wir uns darauf, dass Maria uns aufgeschrieben hat, wo ein Lager zu finden ist. Ausgangspunkt ist die Bushaltestelle in Stary Nadym. Wir laufen zurück in das Dorf. Auf dem Weg dorthin treffen wir die Burschen aus Tscheljabinsk mit ihrem Geländewagen wieder. Wir erzählen ihnen was wir suchen. Nach zehn Minuten tauchen sie wieder auf und bitten uns einzusteigen. Müßig zu erwähnen, dass sie uns fast an der gleichen Stelle absetzen wie zuvor Irina. Sie sagen, es habe in der Gegend zahlreiche Lager gegeben – links sowie rechts der Straße. Wir beschließen daher den Wald auf der anderen Straßenseite zu durchstreifen. Lager hin, Lager her – die Sonne scheint und zaubert sofort eine andere Stimmung. Die Farben der Tundra beleben das Auge. Sogar einige Mücken genießen mit uns die letzte Sommersonne. Wir stoßen zwar auf alte Drähte, Balken und Betonteile, können diese aber nicht eindeutig als Lagerreste identifizieren. Mit einer halb zerfallenen Holzhütte, die mitten auf einem Sandweg auf einer Art Schlitten steht, geht es uns ebenso.

 

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Üüberall hat es hier Lager gegeben versichert man uns! Die Reste eines GULag oder nur eine zerfallene Holzhütte neueren Datums?

Langsam machen wir uns auf den Rückweg Richtung Nadym. Ziel ist die etwa vier Kilometer entfernte Pontonbrücke über den Fluss Nadym. Von dort aus wollen wir den Bus in die Stadt nehmen. Anhand der Kilometertäfelchen errechnen wir eine Marschgeschwindigkeit von 5 Kilometern pro Stunde (gerade Straße, kein Gepäck). In der Tundra mit 20 Kilo auf dem Rücken sind 3 Kilometer pro Stunde sicher realistischer.

Die Pontonbrücke wird übrigens privat betrieben. Fahrzeuge die auf die andere Seite wollen müssen bezahlen. Ein PKW immerhin 60 Rubel (knapp 2 €). Für jede Fahrtrichtung gibt es eine Brücke. Die Brücke schwankt kaum wenn LKWs darüber fahren. Es regnet wieder – zwei Regenbögen spannen sich über den Fluss.

Als ein großer Bus über die Brücke fährt, deuten wir dem Fahrer an mitfahren zu wollen. Der macht jedoch nur eine Handbewegung, hält aber nicht auf der Brücke. Am anderen Ufer ist dann auch nichts mehr von ihm zu sehen. An der Bushaltestelle hinter der Brücke machen wir Pause bei Wasser und Müsliriegeln. Als wir uns schon auf den Weitermarsch eingestellt haben, hält der reguläre Bus. Etwa sieben Kilometer sind es bis in die Stadt. Dort besorgen wir noch die zwei Dosen Depotbohnen und gönnen uns ein Schaschlik im Zelt. Der Grillmeister kommt aus Baku/Aserbaidschan.
In der Gastiniza sortieren wir minutiös die Sachen, die wir morgen mitschleppen müssen. Etwa 5 kg sortieren wir tatsächlich aus. Meine überschlägige Rechnung vom Vortag kommt also in etwa hin.

regenbo.jpg (6807 Byte) Regen und Sonne wechseln an diesem Tag in schneller Folge.

Charly stellt tagsüber mit Jürgens Präzisionskompass fest, dass die Sonne hier um 14:20 Uhr exakt im Süden steht. Daraus will er unseren Standpunkt bestimmen. Aufgrund der Missweisung kann dieser jedoch nicht direkt bestimmt werden. Am Abend geht er akribisch sämtliche Karten durch und macht sich mit den Angaben zur Missweisung vertraut. Hier im Original seine detaillierten Erläuterungen und Berechnungen:

 

Exkurs: Geografische Standortbestimmung

Es ist bei Sonnenschein möglich mit Hilfe eines Kompasses entweder den Längengrad oder die Uhrzeit (zunächst die Greenwich-Time) zu bestimmen. Voraussetzung ist, dass eine der beiden Größen genau bekannt ist. Um die Zusammenhänge zu verstehen, muss man sich zunächst vorstellen, dass die Sonne einmal pro Tag für einen kurzen Moment unseren geographischen Süden überschreitet (jedenfalls z. Zt. auf der ganzen Nordhalbkugel). Dies ist zwar wissenschaftlich nicht exakt, da nicht die Sonne etwas "überschreitet", sondern die Erde sich so dreht, dass sich alle 24 Stunden der geographischer Süden mit der Achse Erde-Sonne für kurze Zeit überschneidet.
Aber dies spielt bei den nachfolgenden Erklärungen keine große Rolle. Passiert diese Überschneidung in der Sternwarte Greenwich, einem östlichen Vorort von London, dann ist gemäß Greenwich-Time exakt 12:00 Mittag. Für irgendeinen westlichen Vorort von London ist zwar laut Bahnhofsuhr auch 12:00 Uhr, aber die Sonne steht erst wenige Sekunden nach 12:00 Uhr exakt im Süden.

Dies bedeutet, dass das weit östlicher gelegene Sibirien schon längst den "Sonne-im-Süden-Punkt" für diesen Tag überschritten hat. Wenn man weiß, um welche Uhrzeit dies exakt war, kann man a) die geographische Länge ermitteln, oder andersherum: Wenn man seine geographische Länge kennt, kann man b) seine Uhr entsprechend nachstellen.
An diesem von Norres beschriebenen Tag versuchte ich ersteres durchzuführen. Nun ist die Sache aber doch noch nicht so einfach wie bisher beschrieben. Erstens zeigt unsere Armbanduhr nicht die Greenwich-Time und zweitens ist Süden (gemeint ist die gedachte Linie, die vom Südpol über unseren Kompass weiter zum Nordpol führt) nicht exakt dort, wo die Kompassnadel hinzeigt. Kommen wir zunächst zum ersten Problem:
Natürlich zeigt unsere Armbanduhr nicht Greenwich-Time, denn alle Menschen auf der Welt wollen ungefähr zur Mittagszeit "12:00" auf ihrer Uhr sehen (genau genommen wollten dies zunächst die europäischen Kolonialherren in Übersee). Hierzu hat man die Welt in 24 Zeitzonen eingeteilt. Die Zone in der wir uns z. Zt. befinden, ist zwei Zeitzonen von Moskau, Moskau ist zwei Zeitzonen von Deutschland und Deutschland eine Zeitzone von Greenwich entfernt.
Würde in Summe 5 Stunden vor Greenwich machen, wenn es da nicht noch die Sommerzeit gäbe (auch in Greenwich haben die Menschen erst um 13:00 exakt Mittag), die man hier beim Summieren nicht vergessen darf. Macht also 6 Stunden Zeitunterschied. Warum dies wichtig ist wird später deutlich.

Kommen wir zu der Tatsache, dass die Kompassnadel nicht exakt nach Süden zeigt. Die Nadel zeigt ja nicht nach Süden, weil am Südpol ein Peilsender steht, sondern weil sich durch den Eisenkern in der Erde und die Drehung der Erde ein schwaches Magnetfeld ausgebildet hat. Dessen Achse geht ungefähr durch Nord- und Südpol. Dieses Magnetfeld wird jedoch durch allerlei Effekte derart abgelenkt, dass der Kompass oft nicht exakt nach Süden zeigt. Diese Ablenkung, nennt man Mißweisung.

Das schwierige, an der Bestimmung der Mißweisung ist nun, dass sie sich mit den Jahren ändert; und dies auch noch mit unterschiedlicher Geschwindigkeit. Gutes Kartenmaterial gibt glücklicherweise hierüber Auskunft.
Unsere russische Militärkarte weist für unser Gebiet eine Mißweisung von +21,9° für das Jahr 1965 aus. Unsere amerikanische Fliegerkarte (TPC) gibt eine Mißweisung von 20,2 °E für 1985 an und soll eine Änderung von –6´ pro Jahr haben, die zudem noch wachsend ist. Um die Mißweisung für heute zu bestimmen muss man interpolieren: In der Zeit von 1965 bis 1985 hat sich demnach die Mißweisung um jährlich –5,1´ statt wie geschrieben um –6´ verändert. Daher unterstellen wir aus den gegebenen Zahlen, dass sich die Mißweisung im Zeitraum 1985 bis 2005 um –6,9´ statt –6´ pro Jahr ändert. Wir erhalten für das Jahr 2004 an unserem Standpunkt folgende Mißweisung:

19 Jahre x –6,9´/Jahr + 20,2° = +18,0°

Aus der Uhrzeit, wann die Sonne heute exakt im Süden stand, der Zeitverschiebung zu Greenwich und der aktuellen Mißweisung kann man nun den Standpunkt errechnen:

(12:00 - 14:20 +6 Std.) x 360°/24 Std. +18° = 73°

Tatsächlich befinden wir uns auf 72,7° östlicher Länge. Das Ergebnis ist erstaunlich genau; für einen Wanderer zur Bestimmung der Standortes aber immer noch zu ungenau.
Warum erstaunlich genau: Neben vielen anderen Toleranzfehlern (Uhrzeit, Kompass-Skalierung,...) ist das Peilen der Sonne mit Jürgens Kompass mit dem größten Fehler versehen. Bei dem o. g. Rechenbeispiel habe ich – unter Vernachlässigung aller anderen Fehler – den Kompass wohl mit einer Genauigkeit von 0,3° abgelesen. Mehr als ein ½° Genauigkeit hätte ich der Prozedur nicht zugetraut.

Warum ist dies aber trotzdem zu ungenau? Man bedenke (nochmals umgangssprachlich ausgedrückt), dass die Sonne einmal am Tag um die Erde läuft. Dabei legt sie pro Tag an diesem Punkt des Hohen Nordens noch eine Strecke von immerhin 16.584 km zurück (am Äquator sind es ca. 40.000 km). Dies ergibt – anders ausgedrückt – eine "Sonnengeschwindigkeit" über diesem Teil der Erde von 691 km/h. Bei dem ausgesprochen guten Ablesefehler von 0,3° ergibt sich immer noch ein Streckenfehler in Ost-West-Richtung von 13,8 km oder ein Zeitfehler 1,2 Minuten.
Man muss also schon über eine sehr exakte Uhrzeit (hier lag übrigens auch die Notwendigkeit exakte Chronometer für die Schiffahrt zu entwickeln – aber das nur am Rande) und über einen ausgesprochen guten Kompass mit Sonnenpeilung verfügen, um einem Wanderer auch nur eine grob geschätzte Aussage über seinen Standpunkt zu geben.

Der "Sonne-im-Süden-Punkt" hat im anglo-amerikanischen Sprachgebrauch, wie viele Western-Fans wissen, eine spezielle Bezeichnung. Er heißt "hight noon". Er meint genau das gleiche, weist aber auf einen anderen Tatbestand hin: Wenn die Sonne genau im Süden steht, hat sie auch den höchsten Punkt über den Horizont erreicht. Wozu diese Information in der geografischen Standortbestimmung (vor Bill Gates, sagte man Navigation dazu) wichtig ist, berichte ich demnächst an anderer Stelle.


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