Die "Affennummer" | Nudelbrei im Regen | die Winterstraße | "luftige Draisine" | "bei Andrej dem Jäger" | übernachten in der "Tonne"
Mittwoch, 8. September 2004
Heute geht
es los! Die letzten Kleinigkeiten verstauen wir im Rucksack. Mit der Zange zerkleinern wir
einige Stücke Würfelzucker und füllen den Grusel in eine Pillendose. Zu den 20 kg für
den Buckel kommen noch etwa 2 kg im Daypack. Um 09:30 Uhr steht ein Taxi vor der Tür. Wir
müssen Maria versprechen uns sofort zu melden wenn wir wieder da sind. Ihre fürsorgliche
Art erinnert uns an Lydia, mit der wir vor 13 Jahren durch Norilsk
marschiert sind. Unsere Mutmaßungen, wieweit die Piste nach Westen zu befahren ist, reichen von 20 bis 53 Kilometer (bei Kilometer 53 ist ein großer Fluss und dort ist spätestens Feierabend). Aber Pustekuchen, nach exakt 12 Kilometern ist bereits Schluss. Auch ein Geländewagen käme nicht mehr weiter! Wir zahlen dem Fahrer 300 Rubel und dann sind wir endlich in der Wildnis. Entspannte, erwartungsfrohe Minen auf den Gesichtern. Endlich keine Übernachtung mehr in einem hängemattenartigen Bett. Die Eisenbahntrasse und auch die ersten Schwellen sind zu erkennen. Die Sachen für das Depot müssen wir jetzt zwangsläufig noch einige Kilometer mitschleppen.
Das Daypack schnallen wir vor den Bauch. Da wir
jederzeit mit Regen rechnen müssen, probieren wir schon mal die Regenkluft an. Jürgen
zwängt sein Daypack unter sein Eduschojäckchen sitzt echt spack aber der Sack
bleibt trocken! Als er dann noch die Kapuze aufzieht sieht er aus wie ein Teletubby.
Charly hadert mit seinem Poncho, einem Werbegeschenk der Firma WIG. Das Plastik ist
brüchig wie alter Papyrus. "Tja, reklamieren kannst du den nicht mehr, der Laden ist
pleite," werfe ich ein! Ich vertraue darauf, dass meine Goretex-Jacke dicht ist und
verzichte auf jegliche Verkleidung. Dann zurren wir gutgelaunt die Beckengurte fest und
los gehts!
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Nach knapp anderthalb Kilometern erreichen wir
die erste Brücke. Wir müssen entscheiden ob wir darüber laufen oder unten durch den
Sumpf waten. Nach der Inspektion der Unterkonstruktion entscheiden wir uns die
Brücke zu überqueren. Vorsichtig, mit bedächtigen Schritten, gehen wir über die alte
Holzkonstruktion. Der Schienenstrang ist teilweise komplett mit kleinen Bäumen, Blaubeersträuchern, Moosen und Flechten zugewuchert. Ab und zu stehen oberarmdicke Bäume auf, oder direkt neben dem Gleis. Charly ist drauf und dran seine Säge auszupacken um einen zu fällen. Er möchte die Jahresringe zählen, um herauszufinden wie lange hier kein Zug mehr gefahren ist. Zwei Stunden später rasten wir erstmals unter einer noch fast intakten Holzbrücke.
Nach unserer Rechnung haben wir gut 6 Kilometer zurückgelegt. Außer einem kurzen Schauer
ist es bislang trocken geblieben. Bei einem Stück Brot, einem Apfel und etwas Cola lassen
wir den Blick in die Tundra schweifen. Die Landschaft ist flach nur ab und zu gibt
es ein paar wellige Hügel. Dort sind die Bäume auch hier fast ausnahmslos Birken
und Lärchen zahlreicher und auch größer. Das Laub der Birken schimmert teilweise
rötlich. Der geschulte Blick verrät weiterhin: Auch hier ist die Blaubeersaison noch
nicht zu Ende! Der allgegenwärtige Sumpf macht es im Sommer unmöglich durch die Tundra zu marschieren. Dazu verderben einem Milliarden von Steckmücken jeglichen Spaß. Selbst in der Stadt Nadym soll es im Juli so schlimm sein, dass jeder dem es irgendwie möglich ist, die Stadt in diesem Monat verlässt. Auf dem sandigen Bahndamm kommt man jedoch auch im Sommer gut voran. Im Winter sind die 330 km von Nadym bis Salechard auf einer Art "Straße" auf gefrorenem Buschwerk zu bewältigen. Bei einigen Brücken müssen wir überlegen, bevor wir sie überqueren. Was macht man
beispielsweise, wenn nur zwei rostige Schienen 10 bis 15 Meter auf die 4 bis 5 Meter hohe
Brückenkonstruktion führen? |
Getreu dem Motto "Not
macht erfinderisch", kommt mir eine andere Überquerungsmethode in den Sinn: Die
Hände an die eine und die Beine an die andere Schiene und dann seitlich
fortbewegen. Eine recht sichere Art solche Passagen zu überwinden. Man muss lediglich den
Rucksack ordentlich festschnallen damit er nicht seitlich wegkippt. Mit dieser sogenannten
"Affennummer" sollten wir denn auch noch mehrere luftige Gleise
überqueren.
Das Wetter wird immer schlechter: Nieselregen und
Wind! Meter für Meter teils auf den alten Schwellen, teils dem schmalen sandigen
Trampelpfad direkt daneben laufen wir Richtung Westen. Die unzähligen Spuren im
Sand identifizieren wir in der Mehrzahl als Rentierspuren. Überall auch frische
Rentierlosung; doch die Tiere haben wir bisher nicht gesehen.
Ab 17:30 Uhr halten wir nach einem geeigneten
Zeltplatz Ausschau. Entscheiden uns notgedrungen dafür, direkt neben den Gleisen zu
übernachten. Nirgendwo sonst ist eine plane Fläche zu finden. Mit einer Schwellenplatte
ebnen wir die Zeltfläche ein. Insgesamt haben wir nach unserer Rechnung heute 20 km
geschafft. Befinden uns demnach ungefähr bei Kilometer 32 von Nadym aus. Nicht schlecht
für den ersten Tag. |
Donnerstag, 9. September 2004
Halb acht! Als ich aus dem Zelt krieche sehe ich in etwa 200 m
Entfernung eine kleine Rentierherde. Unser heutiges Tagesziel ist schon erwähnter Fluss
bei Kilometer 53. Es ist klamm im Zelt! Kein Wunder, denn sämtliche nassen Sachen (Hosen, Socken, Jacken) haben wir mit ins Zelt genommen. Die Jungs klagen über nasse Schuhe! Meine sind noch erstaunlich trocken. Das nasse Zelt stopfen wir in den Rucksack. Bevor wir etwas frühstücken und Tee kochen, ist warmlaufen angesagt. Es ist heute windiger als gestern, dafür regnet es aber nicht. Auf der Strecke finden wir jetzt kleine Kilometerschilder. Unsere gestrige Rechnung 20 km geschafft zu haben stimmt fast genau. Nach einer Stunde kochen wir Tee. Wir laufen durch offene Tundralandschaft. Jede kleine Baumgruppe in der Nähe des Gleises ist willkommen, da die Bäume den Wind wenigstens etwas abhalten.
Nach anderthalb Stunden kommen wir an eine Brücke, die wir mit der schon beschriebenen Methode "Affennummer" überqueren. Jürgen kann es nicht lassen, auch andere Arten der Überquerung auszuprobieren. Besonders wenn nur eine Schiene vorhanden ist, hilft ihm sein ausgeprägter Gleichgewichtssinn. Ist die Strecke nur ein paar Meter lang und die Schiene nicht allzu hoch, balanciert er auf die andere Seite. Ist die Strecke etwas länger hockt er sich wie ein Hase auf eine Schiene und "hoppelt" quasi hinüber. Charly und ich suchen in diesen Fällen wenn irgend möglich einen halbwegs trockenen Weg durch den Sumpf.Fast parallel zu den Schienen verläuft hier die Winterstraße. Es ist eine andere Art Winterstraße als jene, die uns bereits bekannt sind. So ist z. B. der Kolyma-Highway auch eine Winterstraße; aber nur deswegen weil es keine Brücken mehr gibt und die Flüsse zugefroren sein müssen um die Strecke zu befahren. Der Schotterbelag ist in Ordnung. Hier in der Tundra ist das anders. Die Straße ist zwar daran zu erkennen, dass die Oberfläche gerade ist und keine Bäume auf ihr wachsen, einen Straßenbelag gibt es aber nicht. Es ist der gleiche Sumpf und es wächst das gleiche Moos wie überall. Um vorwärts zu kommen muss sie einfach gefroren sein. Im Sommer sieht so ein Verkehrsschild in der Tundra in unseren Augen irgendwie komisch aus.
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Eine Pause für dringende Geschäfte nutzen wir
auch für eine kleine Blaubeerzwischenmahlzeit. Die kleinen Sträucher hängen voller
Beeren, die jedoch leicht abfallen wenn man sie berührt (die Saison nähert sich dem
Ende). Die Strecke verläuft schnurgerade. Vor uns fliegen immer wieder Scharen von
Schneehühnern auf. Dann stoßen wir wieder auf eine Brücke mit einer langen "Affenschaukel". Und mitten auf dieser Affenschaukel steht in etwa 6 Metern Höhe auf abschüssigem Gleis man glaubt es kaum eine Draisine! Sieht noch absolut fahrtüchtig aus. Ein wahrlich luftiges Gefährt. Aber gerade dieses Gefährt versagt es uns, hier unsere bekannte Überquerungstechnik anzuwenden. Nicht auszudenken wenn das Ding abstürzt oder durch das Schwingen der Schienen losrollen würde. Die Idee ein spektakuläres Foto "Jürgen auf der Draisine" zu machen legen wir schnell ad acta.
Entweder waten wir durch den Sumpf oder wir versuchen innerhalb der Holzkonstruktion trockenen Fußes auf die andere Seite zu gelangen. Jürgen und ich erkunden zunächst ohne Gepäck einen möglichen Weg. Mit den Rucksäcken auf dem Rücken ist es nicht möglich also bugsieren wir unsere Sachen in einer Art Dreierkette durch die Balken. Das klappt auch ohne nennenswerte Schwierigkeiten.Charly mahnt in solchen Situationen an, immer auf die Sicherheit zu achten. Gut, mittlerweile hat auch Jürgen kapiert, dass er für eine zirkusreife Balancenummer auf einer Schiene hier kein Publikum hat. Zudem gibt es für den wenn auch unwahrscheinlichen Fall eines Fehltritts weder Gips noch Tragen. Das heutige Ziel Kilometer 53 gibt zu allerlei Spekulationen Anlass. Im
Internet haben wir gelesen, dass dort zwei Menschen leben sollen. "Vielleicht gibt es
dort ja eine Banja", so Jürgen. Ein Boot, das uns über den Fluss bringt,
wäre auch nicht schlecht. Als wir uns Kilometer 53 nähern sehen wir immer mehr Schrott
und Abfall neben den Gleisen.
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Derweil holen Charly und Jürgen Tee und die
Becher aus den Rucksäcken. Ich freunde mich zwischenzeitlich mit den Hunden an. Vor allem
der kleinere ist geradezu aus dem Häuschen. Er freut sich sichtlich über die
Abwechslung. Die mausgraue Katze beobachtet das Treiben dagegen in aller Ruhe. Als die
beiden zurückkommen legt unser Freund den Tisch mit Papier aus. Darauf legt er ein
großes Messer und zwei Fische (einen geräucherten von fester Konsistenz und einen
rohen). Wir trinken Tee und probieren den Fisch. Der geräucherte schmeckt ausgezeichnet
von dem rohen probiere nur ich ein Stück. Mit gestenreicher Körpersprache versuchen wir unsere mangelhaften Russischkenntnisse wenigstens halbwegs auszugleichen. Unser Gastgeber heisst Andrej und ist derzeit der einzige Mensch der hier lebt. Er besitzt auch ein Boot (russ: lodka) soviel verstehen wir schon. Und das er uns morgen über den Fluss rudern soll ist auch schnell geklärt. Als wir mit dem Tee und dem Fisch fertig sind (die Tiere bekommen jeweils auch ein Stück), machen wir Anstalten unser Zelt aufzubauen. Daraufhin deutet Andrej auf eine der beiden Wohntonnen in der wir übernachten können. Das nasse Zelt im Rucksack, überlegen wir nicht zweimal und ziehen in die Tonne. Also die Leute, die hier mit uns übernachten würden, können wir an einer Hand abzählen.
Das Innere der Tonne ist sagen wir es einmal so etwas schmierig und unaufgeräumt! Aber wir nehmen die Röhre! Es gibt drei Betten besser gesagt Hängematten auf denen wir unsere Schlafsäcke ausrollen. Auch ein Ofen ist vorhanden. Charly überlegt ernsthaft ihn anzuheizen. Nur die Tatsache, dass er komplett mit allem möglichen Müll gefüllt ist, hält uns davon ab. In der Umgebung der Holzhütten und Wohntonnen liegt aller nur erdenklicher Unrat. Von leeren Wodkaflaschen bis zu alten LKW-Reifen findet sich alles. Der Abendspaziergang führt uns zu einem nahegelegenen etwa 30 Meter hohen Holzturm. Wir vermuten er diente früher als Wachturm. Die Umgebung lässt auch darauf schließen. Auf einer größeren Fläche sind hier Bäume gefällt worden und es gibt etwa sechs parallele Gleise. Die auf den Turm führenden Holzleitern sehen arg marode aus; ihn zu besteigen erübrigt sich daher. Der weissbraune Hund weicht uns während des gesamten Spaziergangs nicht von der Seite.
Wieder in der Tonne schichten wir einige Ziegelsteine auf dem Herd auf, so dass unser Brenner unter den Topf passt. Angebratener Speck und eine mexikanische Fertigmahlzeit. Zumindest die Konsistenz des Topfinhalts ist mit dem von gestern nicht zu vergleichen: Bei weitem nicht so zähflüssig! Ein Wodka bei Kerzenlicht rundet den Tag ab. Morgen steht die Flussüberquerung und eine Etappe mit kleinem Gepäck auf dem Programm. Ziel ist eine etwa 12 Kilometer entfernte Gasstation von Gasprom. Charly verarztet seine Blasen am Fuß. Nichts Ernstes wie es aussieht! Bei Kerzenlicht schreibe ich noch ein paar Zeilen und hänge das Zelt zum trocknen auf. Dann krieche auch ich in den Schlafsack. |
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