Scannerkasse statt Abakus  |  Die ersten Schienen   |  Schaschlik beim Georgier  |  Das Depot

Sonntag, 5. September 2004

Ich traue mich kaum es aufzuschreiben! Als wir aus dem Schlafsack kriechen ist es fast 10:00 Uhr. "Schreib doch einfach 06:00 MESZ, das stimmt auch, klingt aber besser," so Charly! Es ist bewölkt und windig!
Wir laufen durch die Stadt: Irgendwo einen Kaffee oder Tee trinken und versuchen Gas für unseren Kocher zu bekommen. Später wollen wir Maria anrufen um von ihr noch einige Informationen zur Stalinbahn zu bekommen
, und sie – wie schon gesagt – zum Essen einzuladen.
haende.jpg (13061 Byte) aisberg.jpg (14434 Byte)
Eine intakte Eisenbahnlinie würde die Regionen Salechard und Nadym auf jeden Fall zusammenwachsen lassen. Das Hotel Aisberg –   davor eine Moschee. In Nadym leben zahlreiche Muslime.

Nadym macht trotz des tristen Wetters einen freundlichen Eindruck. Die Stadt hat etwa 50.000 Einwohner und liegt, umgeben von einigen Seen, inmitten der Tundra. Ihr fehlt die Unaufgeräumtheit einer russischen Permafroststadt, wie sie beispielsweise Jakutsk ausstrahlt.

Die Straßen und der große Park sind sauber und die Wohnblocks sind zum Teil ansehnlich gestrichen. Es gibt Magazine zuhauf! Die Vorstellung von einem russischen Magazin (Ware aussuchen – Ware bezahlen – Ware gegen Bon abholen) kann man hier getrost vergessen. Auch einen Abakus sucht man vergebens. Vielmehr sind die Magazine von westeuropäischen Supermärkten nicht zu unterscheiden. Einkaufswagen, Scannerkassen und Überwachungskameras sind selbstverständlich. Das Angebot ist reichhaltig: Von der frischen Ananas über französischen Rotwein bis zum deutschen Bier gibt es alles. Nicht zuletzt deshalb haben wir den Eindruck, dass der Lebensstandard hier verhältnismäßig hoch sein muss.

Mit Hilfe unseres ausgedruckten Stadtplanes finden wir uns problemlos zurecht. Ein Pluspunkt für Charly. Die auffälligsten Gebäude sind das schon erwähnte Hotel Aisberg, eine Moschee und eine orthodoxe Kirche. Wir werfen einen Blick in die Empfangshalle des Hotels. Ein futuristischer, etwa 25 Meter hoher, pyramidenförmiger Bau, der entfernt an das "Luxor" in Las Vegas erinnert. Denken nochmals an die Rothaarige von gestern. Sehen wir wirklich so aus als würden wir uns dort wohlfühlen?
In einem Schaschlikzelt am See trinken wir einen Tee. Da wir Maria nicht erreichen, versuchen wir, schon mal den richtigen Weg nach Salechard zu finden.

 

Nach etwa 8 Kilometern sollen die ersten Schienen auftauchen. Wir laufen durch die Außenbezirke von Nadym. Gut, das mit der fehlenden Unaufgeräumtheit muss ich hier revidieren. Vorbei an Unmengen von Schrott und Abfall, unzähligen beheizbaren Garagen, führt die Sandpiste Richtung Westen. Mit jedem Kilometer den wir uns von der Stadt entfernen nimmt der Schrott ab. Die Tundra zeigt ihr wahres Gesicht. Nach vier Kilometern entdecken wir tatsächlich die erste Schiene; sie steckt im Sand. Es folgen die Reste einer Holzbrücke und weitere Schienenstücke, die größtenteils von der Tundra verschlungen sind. Nach sechs bis sieben Kilometern machen wir kehrt – es ist der richtige Weg, soviel steht fest!
Auf dem Rückmarsch hält vor uns ein Auto mit zwei Russen. In dem kurzen Gespräch meinen wir rauszuhören, dass die Straße etwa 30 Kilometer in Richtung Salechard zu befahren ist. Das ist deshalb interessant für uns, weil wir beabsichtigen uns mit einem Auto soweit wie möglich in Richtung Salechard fahren zu lassen, um von dort aus weiter nach Westen und irgendwann wieder zurück zu marschieren. Die beiden kommen aus Tscheljabinsk. Irgendwie wollen sie mit uns in Kontakt kommen. Schließlich geben wir ihnen die Adresse von Volkers Homepage.
erstesch.jpg (40009 Byte) Es ist der richtige Weg: Wir entdecken die erste Schiene im sandigen Tundraboden

Um 19:00 Uhr sind wir wieder in unserer Gastiniza. Maria kann nicht vorbeikommen, da sie auf ihren Sohn wartet. Der ist 13 Jahre alt und mit Freunden zum Grillen in die Tundra gefahren und noch nicht wieder zurück. Als der Bursche auch um halb neun noch nicht zu Hause ist macht sie sich ernsthaft Sorgen. Wenn alles in Ordnung ist, will sie morgen um 11:00 Uhr bei uns vorbeikommen.
Auf ein Schaschlik wollen wir heute jedoch nicht verzichten – es ist schließlich Sonntag. In der Piwobude gegenüber liegen nur noch ein paar Trockenfische, etwas Kaviar und ein paar Käsebrote auf der Theke. Nach einem/r Bier/Cola ziehen wir weiter. Ziel ist die Schaschlikbude am See. Es regnet jetzt sehr stark. Zufällig finden wir schon früher eine Bude. Ein echter Volltreffer wie sich später herausstellt.

Zunächst bestellen wir Schaschlik und Tomatensalat bei der sehr freundlichen und zuvorkommenden Bedienung, der Tochter des Hauses, wie wir später erfahren. Kurze Zeit später bekommen wir eine Art Käseblätterteig serviert. Als wir andeuten, dies doch gar nicht bestellt zu haben, gibt man uns zu verstehen, dass es auf Kosten des Hauses geht. Danach kommt zwar kein Schaschlik, dafür aber ein sehr leckeres Kotelett mit Zwiebeln und Tomatensauce.

 

Kurz nach dem Essen setzt sich der Chef des Hauses an unseren Tisch. Er stammt aus Georgien. Charly und ich waren vor drei Jahren dort und so ergeben sich zwangsläufig ein paar Anknüpfungspunkte. Zunächst dreht sich das Thema um Autos und speziell darum wieviel 3-jährige Audi-Modelle kosten. Dazu gesellt sich ein etwa 25-jähriger Student, der in Omsk Ölwirtschaft studiert und hier in Nadym eine Art Praktikum macht. Charly entwirft kurzerhand eine Preistabelle, beginnend mit Audi 80 bis Audi A8 auf der x-Achse und dem Alter auf der y-Achse. Als er Audi 80 notiert ernten wir nur Gelächter. Für sie seien A6 und A8-Modelle interessant. Aber beim A8 müssen wir beim Preis die Segel streichen.

Der Student spricht sogar einige Brocken Deutsch. Es entwickelt sich ein lebhaftes Gespräch: über Georgien und die dortige Gastfreundschaft, über Gaslieferungen nach Deutschland und selbstgemachte Tische und Stühle. Letztendlich erfahren wir sogar in welchem Magazin wir unser Kochgas bekommen.
Die Unterhaltung wird nur durch das Kredenzen weiterer Speisen und Getränke (die wir natürlich nicht bestellt haben) unterbrochen. Das erste Gericht ist Catchapuri, das georgische Nationalgericht. Es folgt eine Art Hackfleisch in Blätterteig und danach ein grüner Tomatensalat mit Knoblauch, Öl und Dill. Die Tochter des Hauses fordert uns freundlich, aber auch sehr nachdrücklich auf, den Tomatensalat zu probieren. Er schmeckt auch wirklich sehr lecker.

Wir verbringen gut zweieinhalb Stunden beim Georgier. Es deutete sich schon während der Unterhaltung an, das wir heute unser Geld hier nicht loswerden. Als Jürgen bei der Verabschiedung Anstalten macht zu bezahlen, wird das vom Hausherrn eindeutig abgewehrt. Wir sind eingeladen! Daraufhin umarmt ihn Jürgen in seiner unnachahmlichen Art. Die Geste kommt an. Wir vereinbaren am Abend vor unserer Abreise noch einmal vorbeizukommen. Um ein unvergessliches Erlebnis reicher laufen wir durch den Regen zu unserer Gastiniza. Jürgen mit ausgebreiteten Armen: "Warum machen die so was?"

Montag, 6. September 2004

08:00 Uhr. Nebel und Nieselregen! Bevor wir uns um 11:00 Uhr mit Maria treffen wollen, laufen wir zu dem Laden, den uns gestern der Georgier genannt hat. Und wirklich, es ist ein richtiger Outdoor-Laden. Von der Mückenschutzkleidung über Angelzeug und Schlauchboote, bis hin zum GPS ist alles zu bekommen. Selbstverständlich auch die passenden Gaskartuschen für unseren Chinabrenner. Der heisst so, weil wir ihn vor Jahren auf einem Chinesenmarkt in Irkutsk gekauft haben. Ein ziemlich simpler Brenneraufsatz, der auf der Kartusche verklemmt wird.
Maria ist pünktlich bei uns in der Gastiniza. Ihr Sohn ist gestern Abend doch noch wohlbehalten aufgetaucht. Sie ist sichtlich erleichtert. Wir setzen uns in den Gemeinschaftsraum und gehen unsere Frageliste durch. Wie weit die Straße nach Salechard derzeit befahrbar ist kann sie nicht sagen. Wir versuchen daher diese zentrale Frage an der Rezeption mit Irina zu klären. Letztendlich ist die Aussage die, dass es vom Wetter abhängt. Ein Taxi könnte uns morgen so weit als möglich rausfahren.
lagebesp.jpg (29050 Byte) Lagebesprechung mit Maria in unserer Unterkunft

Irina macht das Angebot, uns morgen mit ihrem Auto nach Stary Nadym (Alt-Nadym) zu fahren. Dort in der Nähe soll es mehrere Sträflingslager sogenannte GULags (Abkürzung für Glawnoje Uprawlenije Lagerej; Hauptverwaltung der Straflager in der UdSSR) gegeben haben. In Anbetracht des schlechten Wetters nehmen wir ihr Angebot an und verschieben unsere Tour noch um einen Tag. Da wir jedoch davon ausgehen das sich das Wetter bessert, kaufen wir heute den Proviant für mindestens 6 Tage ein. Die Wasserversorgung ist dabei die gewichtigste Komponente. Wir rechnen mit einem Liter Trinkwasser pro Tag und Mann. Unsere Einkaufsliste für 6 Tage:

1 kg Gas 0,5 Kg Speck 0,5 kg Kekse 1,5 kg Nudeln
18 kg Wasser 0,5 kg Brot 1 kg Kekse Zucker
1 Kg Wodka 1 Kg Wurst 1 Kg Mehl Tee
Müsliriegel, Milch- und Eipulver, etwas Öl sowie ein paarTütensuppen haben wir aus Deutschland mitgebracht. Der Tisch biegt sich förmlich, nachdem wir unsere Einkäufe darauf ausgebreitet haben
Rechnet man diese Gewichte zu unseren Rucksackgewichten hinzu, kommen wir auf 75 kg. Geteilt durch drei sind das 25 kg pro Mann – das ist zu viel! Was also tun um das Tragegewicht zu reduzieren? Wir gehen das Problem von zwei Seiten an. Ich dränge darauf möglichst viele Sachen in der Gastiniza zu lassen, die nicht zwingend für die sechs Tage notwendig sind. Von Charly stammt die Idee, ein Vorratsdepot auf der Strecke einzurichten. Wo genau, das hängt zum einen davon ab, wieweit uns ein Auto fahren kann und zum anderen, wie lange wir bereit sind die Sachen mitzuschleppen. Als Depotvorrat schlägt er zwei große Konservendosen vor. Die kriegt ein Fuchs nicht auf! Der Bär, der sie vielleicht aufkriegen würde, kann sie nicht riechen und vor kleinerem Viehzeug sind sie auch sicher. Machen wir Charly!
Wenn wir gut 5 kg aussortieren können und die Depotsachen wie folgt identifizieren (5 kg Wasser, 2 kg Konserven, 1 kg Cola [3 Dosen] und 0,3 kg Gas) bleiben noch summa summarum rund 20 kg pro Mann!
verpfleg.jpg (11894 Byte) markthal.jpg (12427 Byte)
"Jungs, es gibt keinen Geländewagen, in den wir das ganze Zeug reinpfeffern können – wir müssen alles selbst schleppen, glaubt es mir!" Die Markthalle in Nadym versprüht ein fast südländisches Ambiente

Sitzen am Abend in unserem Zimmer und ziehen eine Art Zwischenbilanz. Mit einem Fläschchen Baltika und einem Stück Muksun (so heisst der hiesige geräucherte Fisch) trösten wir uns über das Wetter hinweg. Charly sitzt am Fernseher und wartet auf den Wetterbericht. Auf der Habenseite verbuchen wir: Maria kennengelernt, keine Mücken, gute Versorgungslage, Gas bekommen, Schaschlik beim Georgier. Auf der Sollseite: Regen, Regen und nochmals Regen! Deshalb haben wir auch in der Kirche drei Wetterkerzen aufgestellt.
Wenn das Wetter während der Tour umschlägt muss man das zwangsläufig akzeptieren, aber bei strömendem Regen und Wind bei 5 °C loszumarschieren ist schon noch eine andere Sache!
Wurden heute Mittag in strömendem Regen geradezu vehement von einer – na nennen wir sie mal Dame – in einen Blumenladen gezerrt. Hinter den Blumensträußen lauerten schon ihre Freundinnen. Sämtliche Namen konnten wir uns auf die Schnelle nicht merken. Der Name der Dame klang so ähnlich wie "Luder".
"O ja, das glaub ich," so Jürgen süffisant grinsend! Kurz danach bahnten wir uns den Weg ins Freie.


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