Ich Tamir | der russische Kleinbus | am See Ugij Nuur Char Buchijn Balgas  | Ulan–Baator |

Donnerstag, 12. September 2002

Wie mit Jürgen gestern Abend abgesprochen springen wir zwei aus dem Schlafsack direkt in den See. Es ist noch fast dunkel und der Sand klebt kalt unter den Füßen. Das Zelt wird in Rekordzeit abgebaut und verstaut. Die Sonne ist noch nicht aufgegangen. Es ist zwar kalt, aber als Frostnacht kann diese Nacht leider nicht eingestuft werden.

Unterwegs in der Steppe

Video von morgendlicher Fahrt durch das Chorgo–Gebiet laden:

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Um 7 Uhr 20 sind wir schon unterwegs. Die heutige Etappe zum See Ugij Nuur ist recht lang. Der kleine, flache und fischreiche? See liegt etwa auf halben Weg zurück nach Ulan Baator. Die Jungs diskutieren schon die Art der Zubereitung des noch zu fangenden Fisches. Es sollte schon das richtige Gewässer für meine Flachwasserangel sein. Nach 2 ½ Stunden sind wir bereits an unserem gestrigen Rastplatz. Wir legen auch hier wieder unsere Frühstückspause ein. Die Apfelschalen vom Vortag sind verschwunden. Den alten Mohnbrotkanten legt Jürgen direkt vor den Ausgang einer größeren Erdhöhle – wahrscheinlich die eines Murmeltieres. Heute will Volker das zelebrieren der Zubereitung des Vitamintrunks in einer Videosequenz festhalten. Die Reaktion dreier verschiedener Tabletten, eines Pulvers mit Whisky und Wasser hat schon was und ist als Einklinker in die Powerpoint-Präsentation auf alle Fälle zu gebrauchen.

liegest.gif (53503 Byte) Video von Jürgens Freiluftübungen laden:

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Die Fahrt scheint heute schneller zu gehen als gestern. Und wirklich um halb zwei sind wir in Ich Tamir – etwa 25 Kilometer vor Tsetserleg. Baira kommt mit einem Sixpack Bier und einer Flasche Wodka aus einer Hütte. Dies veranlasst uns schon mal die Trinkgeldfrage zu diskutieren. Die Vorstellungen reichen von 15$ bis 40$. Ich merke an, dass ich ihm schon mein Fischmesser versprochen habe. Schließlich einigen wir uns auf 20$, das Fischmesser und noch ein Feldessbesteck obendrauf.

In Ich Tamir stellt sich auch die Frage über Tsetserleg zu fahren, oder eine andere Strecke über Battsengel zum Ugij Nuur zu nehmen. Ich erwähne nochmals, dass in Tsetserleg ja das beste Museum in der Region zu finden sein soll. Um es vorweg zu nehmen: Das Abstimmungsergebnis lautet 3 zu 1 für die Strecke über Battsengel!

Kurz hinter Ich Tamir halten wir an einer Jurte. Baira muss nach dem richtigen Weg fragen. Und was gibt es sonst noch in einer Jurte? Klar, Airag! Diesmal sogar mit etwas Gebäck – einer Art Krapfen. Eine große Plastikschale mit Airag wird uns gereicht.

b0313k.jpg (3975 Byte) Volker versucht die Fliegen und den Dreck auf der Oberfläche der Airagschale durch Pusten kurz vor dem Trinken wegzublasen. Interessante Technik!
Ich schaue einfach woanders hin während ich einen Schluck nehme
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Die Jurte sieht etwas sauberer und aufgeräumter aus als die der Pferdezüchterfamilie von vor zwei Tagen. Zwei Bettgestelle mit Decken, eine Art Frisierkommode und eine Truhe stehen an der Seitenwand. In der Mitte stehen ein kleiner Tisch und vier kleine Hocker aus Holz. Die Gastgeber schöpfen Airag aus einem großen Lederbeutel, der an der Jurtenwand hängt. Die Wand der Jurte besteht aus einer scherenförmigen Holzkonstruktion, die wie ein Fächer zusammengefaltet werden kann. Mehrere Teile davon ergeben die Jurtenwand. Die Dachkonstruktion besteht aus langen runden Hölzern, die auf einem Scherengitter aufliegen und oben durch einen Ring zusammen gehalten werden. Durch die 60 bis 70 Zentimeter große Öffnung ragt dann das Ofenrohr. Auf dieses Holzgerüst werden von außen Filzbahnen in mehreren Lagen aufgebracht. Den Abschluss bildet ein dickes, helles Leinentuch, das der Jurte das typische Aussehen verleiht.
Es versteht sich von selbst, dass wir auch hier einige kleine Geschenke überreichen. Die beiden Kinder könnten der Marke "Rotbäckchen" wieder zu altem Glanz verhelfen.

In Battsengel kaufen auch wir noch ein Sixpack koreanisches Bier und eine Flasche Wodka. Die beiden Brote, die ich auch noch erstehe stellen sich später als ungenießbar heraus. Während einer Toilettenpause beobachten wir, wie Adler und Bussarde ihre Kreise ziehen. Ab und zu sieht man einen Schatten über den Boden huschen. Nahrung gibt es hier in Hülle und Fülle. Alle möglichen Mäusearten, Erd- und Streifenhörnchen, Hamster und natürlich Murmeltiere. Das Schnarren der geflügelten Heuschrecken ist überall zu hören. Im Hochsommer sind sie in vielen Gegenden eine echte Plage. Bei jeder Rast kratzt Baira einige vom Kühlergrill.

Tagträume auf den Straßen der Mongolei

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Der russische Kleinbus ist ein robustes Gefährt. Er sieht aus wie ein Kastenbrot auf Rädern. Ausgestattet ist er mit zwei Tanks und großen Blattfederpaketen. Zum Einlegen der diversen Geländegänge und des Allradantriebes dienen zwei lange Hebel, die echt was aushalten müssen. Baira betätigt sie mit gehörigem Kraftaufwand. Ansonsten ist das Auto mit allem ausgestattet, was nötig ist – viel ist nicht nötig! Doch eins ist absolut nötig: Der Wagen muss sauber sein! Baira wischt auch schon mal während der Fahrt den Staub vom Armaturenbrett. Abends folgt dann die Generalreinigung: Innenraum ausfegen und feucht durchwischen, Scheiben und Scheinwerfer mit einem feuchten Lappen säubern.

Und hier ein paar Gedanken von Volker: Tagträume auf den Straßen der Mongolei

b0321k.jpg (4157 Byte) Am See Ugij Nuur angekommen – es ist kurz vor sieben und die Sonne steht noch einen Daumensprung über dem Horizont – werfen wir gleich unsere Angel aus. Ein Stück Wurst als Köder soll hier den Erfolg bringen. Vielleicht klappt‘s ja diesmal besser als beim "Nudelbaden" am Baikal.

Ich sitze mit meiner Angelrolle am See, schaue in die glutrote Sonne und genieße den Augenblick. Die Jungs bauen gerade das Zelt auf. Ein Rascheln hinter mir lässt mich hochschrecken. Ein Murmeltier auf dem Weg ins Wasser! Ich verjage das Vieh sofort weil die Biester den Pestfloh übertragen können. So steht es jedenfalls im Reiseführer. Wie Volker später berichtet war das Tier dem Verenden nahe. Sie haben es reglos irgendwo liegen sehen. Vielleicht wollte es sich ja selbst ertränken?
Wir entscheiden uns spontan doch nicht zu warten bis einer anbeißt, sondern schon mal das Wasser für die Nudelsuppe aufzusetzen. Sicher ist sicher! Nach dem gemeinsamen Essen teilt Baira seinen Wodka in 5 gleiche Teile: Sto gram für jeden! Der Abend klingt auf einer schmalen Landzunge am See bei einem Wodka aus unserem Bestand aus.

b0322k.jpg (5764 Byte) Pferde am Ufer des Ugij Nuur

Also ich esse auch Fisch zum Frühstück. Die Angel bleibt – von Charly fachmännisch im Uferkies verankert – natürlich über Nacht ausgelegt.

Freitag, 13. September 2002

6.30 Uhr! Die Angelschnur hat den See gereinigt! Jede Menge Algen haben sich an ihr festgesetzt und lassen sich nur schwer wieder entfernen. Einige Meter Schnur muss ich opfern! Das erhoffte Frühstücksfischlein befindet sich leider nicht am Haken.

Kurz nach sieben sind wir wieder unterwegs, denn 300 Kilometer bis Ulan–Baator sind kein Pappenstiel. Als Zwischen- bzw. Frühstücksstation fahren wir zur einer alten Ruine unweit der "Hauptpiste". Char Buchijn Balgas heißen die Reste einer alten Burg; sie ist aus Schieferplatten gemauert. Nach dem Rundgang durch die Ruinen schließt man uns ein kleines Häuschen auf, welches sich als Museum entpuppt. Einige Tonscherben, Knochen und Luftbilder der Region sind ausgestellt. Hat im Reiseführer ein blaues Kästchen, was bedeutet: unter keinen Umständen versäumen! Der Ugij Nur hat nur ein graues im DuMont Richtig Reisen: kann man machen! Soviel zu den Prioritäten. Irgendwo stehen noch ein paar Photovoltaikpanels in der Ecke, die wahrscheinlich niemand hier anschließen kann. Neben dem Häuschen dreht sich ein Windrad. Was es antreibt, können wir nicht feststellen. Das Ganze sponsert ein japanisches Unternehmen. Die sollten demnächst noch mal vorbeischauen.

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Die Burgruine Char Buchijn Balgas, westlich von Ulan Baator

Der Platz hinter einer zwei Meter hohen Mauer der Ruine eignet sich hervorragend für unsere Frühstückszeremonie. Der letzte Tag in der Steppe, da wird noch mal so richtig gezaubert. Wahlweise Speck- oder Apfelpfannkuchen bis zum Abwinken. Der eine ißt, der andere brutzelt – dabei wird philosophiert. Das geht so reihum. Die Sonne erwärmt langsam die Schieferplatten. Zwei Stunden vergehen wie im Fluge.

Durch eine Bilderbuch-Prärie-Landschaft fahren wir weiter nach Osten. Charly sieht in jedem mongolischen Reiter einen Verwandten von John Wayne. Telegrafenmasten ziehen sich bis zum Horizont. Jetzt noch eine Bahnstation und wir sind mitten in "High Noon"! Unzählige Knochen von verendeten Rindern und Pferden glänzen weiß in der Sonne. Auf den letzten 120 Kilometern bis Ulan-Baator sehen wir viele Owoos, das sind Steinpyramiden, die überall in der Mongolei zu finden sind: an Hauptstraßen, Pässen, auf Bergen und auch schon mal in "the middle of nowhere". Vielfach sind die Owoos mit Gebetsfahnen und allerlei anderen Opfergaben verziert (wie am Baum mit den 100 Zweigen). Wenn man an einem Owoo vorbeikommt, soll man 3 Steine hinzufügen und, falls er mitten auf dem Weg steht, links an ihm vorbeifahren.
b0333k.jpg (4245 Byte) Letzte Pause kurz vor Ulan-Batoor

Um 18:00 Uhr sind wir wieder in Ulan–Baator. Es ist eine andere Welt. Kilometerstand des Kastenbrotes: 94424. Wir sind 1309 Kilometer in gut 100 Stundengefahren! Kurz vor unserer Ankunft schenken wir Baira die Dollar, das Fischmesser und ein Essbesteck. Er bedankt sich überschwenglich.
Der Verkehr in Ulan-Baator ist chaotisch. Es wird bis auf den Zentimeter aufgefahren. Vorgelassen wird keiner. Wir laden unser Gepäck aus und steigen wieder in Nassans Guesthouse ab. Bezahlt haben wir ja schon. Der Stadtrundgang in Ulan-Baator kommt zwangsläufig etwas zu kurz. Es beginnt schon zu dämmern, als wir über den Suchbaater-Platz laufen. Vor dem Regierungsgebäude steht eine etwas kleinere Version des Moskauer Lenin-Mausoleums. Darin stehen die Urnen von Suchbaater, dem Revolutionsführer und einem Diktator, der in den dreißiger Jahren unter anderem die Zerstörung fast aller Klöster zu verantworten hatte. Dann gibt es noch ein klassizistisches Opernhaus, einen riesigen Kulturpalast, den die Sowjets bauten und eine Börse im wunderschönen Zuckerbäckerstil, die ehemals ein Kino für Kinder beherbergte. Uns fällt auf, und das wird später in Irkutsk auch nicht anders sein, dass es trotz Rechtsverkehr fast ebenso viele Rechtslenkerautos gibt. Fast alle stammen aus japanischer Produktion. Wahrscheinlich herrscht hier ein reger Gebrauchtwagenhandel mit Japan.

Ulan-Baator die kälteste Hauptstadt der Erde ist (Jahresdurchschnitt etwa -4 °C).

Nach unserem Rundgang entscheiden wir uns (2 : 1 bei einer Enthaltung) in einem Jurtenrestaurant zu speisen. "IchmagaberkeinenHammelJürgen" wurde dank der Enthaltung von "PizzawäremirlieberCharly" überstimmt! 8 $ pro Nase – Getränke extra – für das National-Food 4-Gänge Menü. Airag ist keiner dabei und auch kein Fitzelchen Murmeltier. Es ist eher russisch angehaucht: Teigtaschen mit gehacktem Hammel (eine Art Pelmeni) Suppe, Salat und Eis. Wir sind ganz alleine in der Palastjurte, die schätzungsweise 30 Personen Platz bietet. Die Sitzhaltung auf den sehr niedrigen Hockern ist beim Essen nicht sehr bequem.

Im Jurtenrestaurant

Abschlussessen in der Palastjurte in Ulan-Baator

Nach dem Essen suchen wir zunächst das hiesige "Hard Rock Cafe´" – finden es aber nicht. So landen wir denn im Chingis-Brauhaus, einer Art mongolischer Malzmühle. Was für Gegensätze – ich kann mich nur wiederholen. Ulan-Baator ist eine Insel inmitten der Steppe. Sämtliche Versorgungsleitungen, Telefon, Industrie etc. konzentrieren sich hier. Volker gibt einen kurzen Einblick in das heutige Schulsystem und vergleicht es mit den Zuständen zu Sowjetzeiten. Die Sowjetzeit schneidet da ganz gut ab. Damals wie heute herrschte Schulpflicht. Vor 1990 wurden über 80 % der Kinder regelmäßig unterrichtet. Heute sind es nicht einmal 50 %! Eine fatale Situation für das Land. Die Gründe dafür sind klar: Früher wurde der Schulbesuch sowie die Schulsachen vom Staat bezahlt. Heute müssen die Familien selbst dafür aufkommen. Viele können das jedoch nicht. Viele sehen aber auch keinen Sinn in einer Schulbildung bei der man für das Nomadenleben nichts lernt! Ich finde, zumindest den Dreisatz sollte jeder Mongole beherrschen: 3 Stuten melken ergibt 10 Liter Airag; wieviel Stuten muss man melken, um 25 Liter Airag zu bekommen? Na ja, man kann auch einfach solange melken, bis der Beutel voll ist.


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