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Samstag, 14. September 2002

Um 6 Uhr rödeln wir auf und fahren mit einem schon wartenden Taxi zum Flughafen. Charly arbeitet sich schon am Flughafen wieder in die sibirischen Unterlagen ein. Wir haben immerhin noch knapp 2 Tage in Russland. Wie bereits erwähnt fliegen wir mit einer alten Antonow 24 einer 2-motorigen Maschine für etwa 40 Passagiere. Die Bordverpflegung übertrifft unsere Erwartungen. Es gibt zwar keine Tische an den Sitzen, doch was wir in die Hand gedrückt bekommen ist recht schmackhaft. Der Mongolei-Burger mit Käse, Gurke, Salami und Zunge ist mehr als sättigend. Bei recht diesigem Wetter fliegen wir über die mongolische Steppe. Volker arbeit bereits die Mongolei-Tour auf, indem er ausführlich den Reiseführer studiert. "Sonst komme ich ja doch nicht mehr dazu", sagt er. Charly sucht immer noch den Busbahnhof in Irkutsk wo die Busse nach Listwanka abfahren. Die alte Antonow setzt sicher in Irkutsk auf. Sonnenschein und 20 °C: Sibirischer Altweibersommer! Jetzt hat Charly wieder das Kommando und da ist natürlich Kultur angesagt. "Dein Vater wird sicherlich fragen wo Du in Irkutsk überall gewesen bist", so Charly zu Volker. "Und wenn Du dann nicht weißt wer oder was die Dekabristen sind, dann fällt das auch auf mich zurück", setzte er noch hinzu!
Zunächst steht das Freilichtmuseum in Talcy auf dem Programm ein unbedingtes Muss für jeden Besucher am Baikal. Die Dekabristen müssen warten. Per Minibus fahren wir 50 Kilometer an der Angara entlang. Nach dem Museumsbesuch soll es per Bus weiter nach Listwanka gehen.
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Umgeben von lichtem Birken- und Buchenwald finden sich auf dem Gelände des Freilichtmuseums
jede Menge Zeugnisse sibirischer Holzarchitektur.

Zum Teil finden sich hier Originalbauten, die irgendwo abgebaut und hier wieder aufgebaut wurden. Einige Häuser sind mehr als 400 Jahre alt. Aber es wird auch Neues hinzugefügt. So wird in 20 Meter Entfernung des Originalturmes der ersten sibirischen Festung ein zweiter Turm neu gebaut. Dazwischen ein paar oben angespitzte Pfähle und fertig ist die Festung. Weiterhin gibt es Grabstellen, Bauernhäuser mit Stallungen und eine Schule. Natürlich fehlen an einem solchen Ort die Souvenirläden nicht. Die größte Puppe ist jetzt Putin. Gorbi und Jelzin sind nur noch im Kleinformat zu haben. Wir schlendern bei Sonnenschein durch die weitläufige Anlage an der Angara. Der Blick auf die angestaute Angara und die Ufer ist traumhaft.
Zurück an der Hauptstrasse erfahren wir, dass der Bus vor 5 Minuten abgefahren ist. Rucksäcke auf und ab an die Strasse. Ich hatte den Kuli noch nicht gezückt und Charly, der wie man in der Mongolei sagt "nach den Pferden schaute", ist noch nicht aus dem Wald zurück, da hält auch schon ein leerer Minibus vor uns.

Ortseingang Listwanka wie schon gesagt: Kultur, Kultur. Schnurstracks geht es ins Limnologische Museum (Limnologie ist die Wissenschaft von Binnengewässern und ihren Organismen). Mit anderen Worten ins Baikalmuseum. Wie bestellt ist gerade eine Führung in Deutsch im Gange. Also lauschen wir der Reisleiterin was sie so alles erzählt. Sehr viel Neues erfahren wir nicht.
Hinzuzufügen
ist noch, dass man unter günstigen Bedingungen 40 bis 50 Meter in den See hinein sehen kann, dass der See das größte Trinkwasserreservoir der Erde ist und dass er zwischen Ende Oktober und Anfang Januar zugefroren ist. Das Eis wird 70 bis 110 cm (in Ausnahmefällen auch 2 m) dick. Seit 1992 wird das Wasser aus 400 Metern Tiefe angesaugt und als Trinkwasser in Plastikflaschen verkauft. Es gibt einen Fisch, der Golomjanka heißt, und fast nur aus Fett besteht. Er kann in kurzer Zeit vom Grund des Sees aufsteigen (Druckunterschied 150 bar), oben kurz seine Larven zur Welt bringt um dann wieder abzutauchen, weil es ihm oben zu warm ist. Er ist nicht mit Netzen oder der Angel zu fangen, sondern wird durch hohe Wellen an Land gespült. Dann wird er von Menschen im Dunkeln aufgesammelt (bei Tageslicht löst er sich in Nichts auf) und für kultische Handlungen den Mönchen gebracht.

In einem anderen Zusammenhang schimpft die Reiseleiterin über das nicht vorhandene Qualitätsdenken in der Sowjetzeit (inklusive der Gründe) und lobt die Qualität und die Langlebigkeit der "Goldenen Schnalle".

Im Anschluss an den Museumsbesuch laufen wir auf den 750 m hohen Aussichtshügel (Cerskijs Fels) und dann mit vollem Gepäck noch 5 Kilometer an der Uferstrasse bis ins Zentrum. Es ist schon später Nachmittag und so wird es langsam Zeit ein Plätzchen für die Nacht zu suchen. Irgendwie steht uns heute nicht der Sinn nach zelten. Außerdem wollen wir am Abend irgendwo noch etwas essen gehen. Das Zelt irgendwo aufzubauen womöglich noch mit Schlafsäcken drin und dann einfach losziehen, scheint uns hier nicht angebracht. Wir marschieren eine lange Dorfstrasse herauf, die vom See wegführt. Vielleicht ergibt sich ja was anderes? In den Gärten wachsen Kartoffeln, verschiedene Kohlsorten und Erbsen direkt neben mannshohen Dahlienbüschen. Dazu die bunt gestrichenen Holzhäuser und das warme Licht der tief stehenden Sonne ergeben ein fast schon romantisches Bild.
In einem der komfortabler aussehenden Häuser klopfen wir an. 30 $ für ein Doppelzimmer. Meine Frage, ob es denn da nicht etwas preisgünstigeres gäbe, wird kategorisch verneint. Als die Hausmatrone mich dann, auch noch ohne eine Mine zu verziehen darauf hinweist, dass derzeit die Dusche nicht funktioniert, glaube ich fast an eine Provinzposse. Die wollen allem Ernstes 60 $ für 2 winzige Doppelzimmer. Njet! Jürgen kriegt sich kaum noch ein: "Da übernachten wir doch lieber im Schlafsack am Baikalufer, oder?", sprachs und blickte in die Runde. Kurz vor der Mündung auf die Uferstrasse finden wir dann jedoch noch ein uns zusagendes Quartier für 500 Rubel (17 $) in einem alten Holzhaus mit echt russischem Flair. Gut, einer muss auf dem Fußboden nächtigen
aber das ist bei unserer Ausrüstung kein wirklicher Nachteil. Es sind noch ein paar andere Leute hier einquartiert. Im wild aussehenden Garten wird Schaschlik gegrillt dazu laute russische Popmusik aus Autolautsprechern. Einige Hunde und Katzen bevölkern ebenfalls Haus und Garten. Über allem schwebt eine Wolke aus Piwo und Wodka. Volker, Charly und ich vergleichen die Szenerie mit der beim Störgrillen im Kaukasus.
Eine Viertelstunde später laufen wir auf der Suche nach einem Restaurant in Richtung Fähranleger. Unsere Ansprüche an ein Restaurant müssen wir gezwungenermaßen herunterschrauben. Das fällt uns nicht schwer. Schließlich landen wir in einer Bier- und Wodkakneipe direkt am Hafen. Zu essen gibt es so gut wie nichts mehr. Volker ersteht nach einigem Hin und Her ein kleines Salatbecherchen und einen Kanten Brot. Ich kaufe ein paar Chipstüten. Bier gibt es allerdings genug: Baltika tri. Nachdem es Volker und Charly irgendwie geschafft haben, draußen ein paar Dollars in Rubel umzutauschen, sind wir in der Lage, uns ein kleines Fläschchen Wodka für den späten Abend zu kaufen. Ein paar martialisch aussehende private Leibwächter in Uniform spielen sich auf als gehörten sie zur Leibwache des Präsidenten.
Irgendwann verlassen wir diesen ungastlichen Schuppen und schlendern zu unserer Unterkunft. Es ist Samstag Abend und das merkt man auch. Eine Menge Fuß- und Autoverkehr. Vor genau einer Woche feierten wir Saturday Night Fever, etwa 6 km von hier entfernt, am Seeufer von Port Baikal. Autos fuhren an diesem Abend nicht, wohin auch? Jeder kann für sich entscheiden, welcher Samstag ihm besser gefallen hat. Für mich war es ganz klar der in Port Baikal.

Sonntag, 15. September 2002

Um halb sieben verlassen wir unsere Datscha und laufen zur Bushaltestelle am Fähranleger. An der Haltestelle treffen wir einen älteren Mann, der hier an einem Kongress über die Baikalrobben teilgenommen hat. Er fährt jetzt mit der Transsib nach Moskau und dann weiter bis St. Petersburg.

Die 65 Kilometer nach Irkutsk verlaufen auf einer sehr gut asphaltierten Straße. Die Straße wurde wegen eines geplanten Treffens zwischen Chrustschow und Eisenhower im Jahre 1960 gebaut. Aufgrund des Abschusses eines amerikanischen Spionageflugzeuges über dem Ural, fand dieser Besuch jedoch nicht statt.
Ein heisser Kaffee aus einer Bude am Busbahnhof, dazu ein paar Schokokekse aus einem Feinkostladen. Wir stehen am Straßenrand und erörtern das – na was wohl
weitere Kulturprogramm. Jetzt sind erst mal die Dekabristen dran! Wie geplant ist das zugehörige Museum nur wenige Schritte entfernt. Der Feinkostladen, vor dem wir stehen bietet auch eine erklägliche Auswahl an getrockneten und geräucherten Fischen. Da ich nicht abschätzen kann, ob sich überhaupt noch eine Gelegenheit zum Fischessen ergeben wird, kaufe ich ein halbes Pfund Trockenfisch. In kleinen Stücken mit etwas Brot schmeckt er ausgezeichnet. Auch Charly und Jürgen probieren, nur Volker hält sich zurück. Den Schokokeks noch am Gaumen, schiebt sich Jürgen gleich den Fisch hinterher.

Pünktlich zur Öffnung des Museums stehen wir vor der Tür eines der beiden Dekabristenmuseen in Irkutsk. Ein altes Holzhaus mit allerlei Einrichtungsgegenständen aus der damaligen Zeit. Die damalige Zeit begann 1825 mit einem Aufstand gegen den Zaren in St. Petersburg. Inspiriert von der noch nicht lange zurückliegenden Französischen Revolution, versuchten russische Adelige solche Bestrebungen auch in Russland durchzusetzen. Sie gründeten Geheimbünde mit dem Ziel, den Zaren zu stürzen. 1825 kam es im Dezember (russisch Dekabre) zum Aufstand. Die Aufständischen wurden jedoch verraten und die zarentreuen Truppen machten dem Putsch schnell ein Ende. Die Folgen: Fünf führende Köpfe wurden hingerichtet und 120 weitere Aufständische nach Sibirien verbannt. Irkutsk spielte dabei eine zentrale Rolle. Einige Frauen folgten ihren Männern in die Verbannung. Vom Leben dieser Dekabristen erzählt das Museum. Nach 20 bis 30 Jahren wurden viele begnadigt. Einige gingen zurück nach Europa, andere blieben. Als intelligente Schicht nahmen sie maßgeblich Einfluss auf die hiesige Lebensweise bis hin zur Gestaltung der Städte. Noch heute haben die Dekabristen einen guten Ruf in Sibirien.
Im Museum ist zunächst das Klo der Ort unserer Begierde. Der Reihe nach besuchen wir das – eine gewisse Atmosphäre ausstrahlene – Örtchen. Es läßt sich unsererseits im Nachhinein nicht mehr rekonstruieren wer derjenige war, der die Toilette – na sagen wir mal – in ihrer Funktion beeinträchtigte.

Das wohl etwas nicht stimmte, konnten wir beim Herausgehen am Gesichtsausdruck einer mit Eimer und Schrubber bewaffneten beleibten Mamuschka ablesen: "Njet raboti – Tualet njet raboti", wiederholte sie immer wieder und schaute uns dabei mit säuerlicher Mine an. Wie gesagt wir waren uns keiner Schuld bewußt.
In der folgenden Diskusion über die Toilettengewohnheiten bei uns und im asiatischen Raum, stellt sich heraus, dass Jürgen möglicherweise der Übeltäter war! Er behauptet doch allen Ernstes, nicht zu wissen wofür der Eimer neben der Schüssel ist. Charly starrt ihn erstaunt an. "Du warst doch mit im Iran", sagte er fassungslos! "Da kommt das gebrauchte Papier rein, wie übrigens auch in fast ganz Südeuropa!"
"Eh, eh wirklich – nä ne – das stimmt doch nicht – oder ... ," stammelte Jürgen. So recht kann er es auch nach Charlys Erklärungen nicht glauben.
Ganz unschuldig war Charly bei dem "Tualet njet raboti" wohl doch nicht! Er ging als erster aufs Örtchen und stellteeine, wie er sagte 50 x 50 cm große Sperrholzplatte, die hochkant auf der Kloschüssel stand, kurzerhand neben die Schüssel. Unterstützt von seinem nicht mehr zu verschiebbaren Vorhaben, sagte er sich, dass die Putzfrau wohl vergessen habe die Platte an den richtigen Ort zu stellen.

Als nächtes schlendern wir zu einem Hotel. Die Staßennamen geben ein Stelldichein der deutschen Kommunisten: Ul. Karla Marxa, Ul. Karla Liebknechta , Ul. F. Engel'sa sind vertreten. Die Frage einer Unterkunft in Irkutsk entpuppt sich als echte Pfadfinderaufgabe. In dem Hotel, welches Charly herausgesucht hat, wollen sie uns nicht. Selbst die Rucksäcke dürfen wir nicht unterstellen. Volker schlägt vor, in einem Internet-Café einen Versuch zur Infobeschaffung zu machen. Charly will in Deutschland anrufen. "Hallo Herr Gleumes, hier Kuhn – ich hab da mal ne Frage nach einer günstigen Unterkunft in Irkutsk – seien Sie doch so gut und schauen Sie für uns mal im Lonely Planet nach!"
Nach einem sibirischen Eis stellen wir unsere Rucksäcke im hiesigen Heimatmuseum – Abteilung Viecher – unter. Als Volker zwei Rucksacktouristen nach einer Unterkunft fragt, fällt wieder etwas Licht auf die Übernachtungsfrage: In der Nähe des Busbahnhofs am Dekabristenmuseum soll es was geben.
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Die Verzierungen an den Fenstern der russischen Holzhäuser sind wirklich einzigartig.

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Man glaubt es kaum, aber Irkutsk hat eine Fußgängerzone. Und heute am Sonntag ist auch richtig was los dort. Fast alle Geschäfte haben geöffnet. Die Leute sitzen draußen in Cafés und vor Getränketischen. Die Temperatur liegt knapp über 20 °C und Väterchen Frost ist trotz der fortgeschrittenen Jahreszeit wohl noch weit weg. Eine offene Wechselstube suchen wir bisher vergebens. Letztendlich haben wir in der obersten Etage der großen Markthalle Erfolg. Die dortige Wechselstube hat zwar geschlossen, aber die Dame des Nachbarladens ist bereit uns 100 Dollar umzutauschen.

Nach einem kurzen Besuch des Heimatmuseums Nummer zwei – Abteilung Krempel – fahren wir mit vollem Gepäck per Bus und Straßenbahn zum Eisbrecher "Angara". Das ausrangierte Schiff, das früher den Baikal so lange wie möglich offen hielt, damit Passagiere und Waggons von einer anderen Fähre auf die andere Seite gebracht werden konnten, beherbergt heute ein Museum. Das heißt – normalerweise beherbergt es ein Museum! Zur Zeit wird jedoch gerade renoviert und der Pott ist abgesperrt. Dank Volkers Überredungskunst lässt sich der Wächter mit ein paar Dollar erweichen uns trotzdem das Schiff zu zeigen.

Heute ein Museumsschiff, der Eisbrecher "Angara"

Heute ein Museum: Der Eisbrecher "Angara"

Hier noch ein paar technische Angaben von Charly:
Im vorderen Teil des Unterdecks gibt es einen riesigen Kessel, in dem Wasser zu Dampf erhitzt wurde. Der Dampf strömte unter hohem Druck in einer relativ dünnen Rohrleitung (Durchmesser 100 mm) vom Kesselraum in den Maschinenraum und setzte dort den ersten Kolben unter Druck. Nach der in diesem Zylinder erfolgten Entspannung, hatte der Dampf immer noch genug Druck um den zweiten Kolben und danach den dritten und vierten unter Dampf zu setzten. Bedingt durch die Entspannung des Dampfes wird der Durchmesser der Dampfleitung zwischen den einzelnen Zylindern immer größer. Jeder Ingenieur der damaligen Jahrhundertwende hätte seine helle Freude an dieser Technik gehabt. Heute fasst man das alles wie folgt zusammen:
Fährschiff: >Bajkal<
(gesunken um 1920)
>Angara<
(von uns besichtigt)
Hersteller Amstrong & Co., Newcastle/England
Länge
Breite
Antrieb
Antriebskraft
Geschwindigkeit
Ladekapazität

Passagieranzahl
Frachtvolumen
88,4 m
17,4m
3 Schrauben
3750 PS
13 Knoten
500 t plus
200 t Brennstoff
300
25 Waggons
61m
10,7m
1 Schraube
1250 PS
12,5 Knoten
200 t plus
150 t Brennstoff
150
Es ist jetzt 18 Uhr! Charly erklärt das heutige Kulturprogramm für beendet! Auf der Fahrt mit dem Bus, in die von Volker herausgefundene Unterkunft, unterhalten sich Volker und Charly mit einer Frau die lange in Norilsk gelebt hat. Sie berichten im Nachhinein Folgendes:
"Das Gespräch kam zustande, weil unser Russisch nicht ausreichte, um uns von der Straßenbahnschaffnerin erklären zu lassen wo wir umsteigen müssen. Sie suchte unter den Fahrgästen lautstark nach Leuten, die eine unserer Sprachen sprechen – und fand dann eben diese Frau. Sie berichtete, dass sie in Norilsk aufgewachsen ist, bis der Vater eine Anstellung in Irkutsk bekam. Im Winter ist es in Norilsk unvorstellbar kalt – gar kein Vergleich zu dem Winter hier. Das hier im Herbst so oft die Sonne scheint sei normal, aber morgen soll das Wetter schon schlechter werden. In Krasnojarsk ist es heute schon sehr kalt geworden. Der Bus sei übrigens so voll, weil eine russische Rockband heute ein Konzert gibt."
Die Straßenbahnschaffnerin ist gut drauf. Sie wirft ein paar deutsche Brocken in die Runde und zitiert sogar ein deutsches Gedicht. In Berlin ist sie gewesen, sagt sie. Wir haben einigen Spaß; und auch einigen einheimischen Fahrgästen steht ein Lächeln auf dem Gesicht.
Für 900 Rubel bekommen wir ein Zimmer. Einer muss jedoch wieder auf dem Boden schlafen. Diesmal fällt das Los auf Charly.
Als wir gegen Abend auf die Suche nach einem geeigneten Restaurant für den Abschlussabend in Richtung Zentrum marschieren, müssen wir unsere Jacken schon zuknöpfen: es ist windig und lausig kalt geworden. Wir laufen nochmals durch das Viertel mit den alten Holzhäusern. Das Besondere an den Häusern sind die Verzierungen über den Fenstern – jede Verzierung sieht anders aus. Das von uns aus dem Reiseführer herausgesuchte Restaurant (ein Geheimtip) stößt auf allgemeine Ablehnung. Sozialistische Atmosphäre, Discokugel und auf dem Hühnerbein in der Auslage pappt ein Preisschild – nein Danke! Es wird sein Dasein wohl weiter als Geheimtip fristen müssen.
Wir laufen weiter in Richtung Fußgängerzone, in der heute Mittag so viel Leben pulsierte. Die Straßen sind ziemlich leer und die große Markthalle hat schon geschlossen. Wir wollen schon eine andere Richtung einschlagen, als uns der Duft der letzten gegrillten Hähnchen einer kleinen Broilerbude in die Nase steigt. Volker und Charly stellen sich an der Bude an – Jürgen und ich holen den Wodka. Als wäre es extra für uns dort hingestellt worden, steht neben der Broilerbude ein geräumiges Zelt mit Bierzeltgarnituren und Bierausschank. Es ist voll, doch wir finden noch ein paar freie Plätze auf den heimisch anmutenden Bänken. Jeder einen halben Broiler, eine Flasche Bier und kostenlos dazu ein paar Stücke Brot – alles im warmen, regendichten Zelt. Mehr können wir nicht verlangen am letzten Abend in Sibirien. Wir verlangen nicht mehr, doch wir bekommen mehr! Mehr, das sind Olga, Jana und Angelika, die mit uns am gleichen Tisch sitzen. Alle so um die 30! Trotz – oder gerade wegen – unserer mangelhaften Russischkenntnisse entwickelt sich eine angeregt fröhliche Unterhaltung. Die Wodkaflasche lassen wir vorsorglich in der Jackentasche verschwinden. Es muss ja nicht ausarten. Die Themen reichen von diversen Altersschätzungen, über Arbeit, Beruf und Familie, bis hin zu Jürgens Ohrring. Wir verbringen einige Stunden in dem gut temperierten Zelt. Erst gegen 23 Uhr laufen wir zurück zu unserem Hotel. Es ist windig, kalt und regnerisch. Mit einem Wodka auf die Mädels an der Broilerbude lassen wir den letzten Abend in Sibirien ausklingen.

Montag, 16. September 2002

Letzter Tag! Der Wecker klingelt um viertel nach fünf. Schnee liegt in der Luft. Am Flughafen kaufen wir noch drei Flaschen Wodka und Volker und ich je einen geräucherten Omul. "Der (gemeint ist sein Vater) bringt mir auch immer etwas mit," erklärt Volker und schaut dabei leicht irritiert auf das geräucherte Fischlein. Charly versucht herauszubekommen wo die 3200 Rubel geblieben sind, die wir erst gestern umgetauscht haben. Ich habe noch 170 und ein paar Kopeken in der Tasche. "Unglaublich – 100 $ – das ist unglaublich," raunt Volker! Nach einigem Überlegen passt es jedoch schon zusammen. An der einen Flasche Bier für die Mädels im Zelt lag es jedenfalls nicht.
Es wird kalt in Sibirien, Zeit für die Rückkehr

In eisigem Wind stehen wir vor der Gangway. Als wir dann im Flieger sitzen klopft Väterchen Frost schon mal an die sibirische Blockhaustür.

Die Tragflächen werden enteist!

Es herrscht dichtes Schneetreiben! Der Start verzögert sich, da der Flieger erst enteist werden muss. Das geschieht hier nicht, indem das Flugzeug wie bei uns durch eine Art Portalkran fährt, sondern mit einem Tankwagen und einer Art Hochdruckreinigerdüse. So ähnlich habe ich die Hauswand vor dem Streichen vom Schmutz befreit. Aber die Sibirier haben damit sicher Erfahrung. Nach einer Stunde hebt die TU 154 dann doch ab und lässt die schon weissen Dächer von Irkutsk hinter sich. Hoffentlich klappt das mit unserem Anschlussflug in Moskau noch? Die Zeit war eh schon ziemlich knapp bemessen. In Moskau geht es dann auch – na sagen wir mal – recht zügig vonstatten. Mit dem Bus von Scheremetjewo 1 nach Scheremetjewo 2 und im Laufschritt zum Eincheck-Schalter. Wir hätten keine fünf Minuten später auftauchen dürfen. Die Schalter machten gerade dicht. Als Jürgen und ich nach der Gepäckaufgebe in aller Ruhe die letzten Rubel im Duty Free Shop verrubeln wollen, kommt Volker zurück und treibt uns resolut zur Eile an: "Wo bleibt ihr denn – los, die warten nur noch auf uns!" Das Personal ist nervös wie ein Dutzend aufgescheuchter Hühner.

Das Gepäck wird an russischen Flughäfen ähnlich behandelt, wie ein von einer Spinne gefangenes Insekt. Lage um Lage wird Klebeband um das Gepäckstück gewickelt bis nur noch das Plastikband zu sehen ist. Ob nur zum Schutz der Gepäckstücke, oder als erschwerende Maßnahme gegen Diebstahl, können wir nicht mit Bestimmtheit sagen. Es wird wohl beides zutreffen. Verteilt auf einzelne freie Plätze, genießen wir die letzten Stunden an Bord der Aeroflot. Wie schon erwähnt: Nichts Negatives gegen die russische Fluglinie, selbst das Essen und der Service auf den Inlandsflügen war in Ordnung.

Um 12 Uhr Ortszeit landen wir in Frankfurt. Das Ende einer wieder mal straff geplanten und genauso durchgezogenen Tour. Am Ausgang stehen Brigitte, Lars und Nils.

Tja, was lässt sich als Fazit dieser Reise ziehen? Vom Ablauf hätte ich mir ein bis zwei Tage mehr am Baikal schon vorstellen können. Außerdem wären ein paar Hundert Kilometer weniger in der Mongolei vielleicht mehr gewesen. Aber das ist hypothetisch! Es dauert halt anderthalb bis zwei Stunden um in der Steppe zu frühstücken – das mal fünf und schon ist man bei zehn Stunden. Zehn Prozent der gesamten Tourdauer in der Mongolei. Muss zukünftig noch stärker bei der Planung berücksichtigt werden. Über die Zusammensetzung der Truppe, die Abstimmung und die einzelnen Aufgaben und Vorlieben bedarf es keinerlei Erklärungen – es passt einfach! Was gabs sonst noch? Die Nächte auf der dünnen Isomatte im Zelt! Nach der fünften Nacht merkte ich denn doch meine Knochen. Den anderen scheint das anscheinend nichts ausgemacht zu haben. Na ja, schließlich bin ich ja der Drittälteste.


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