Einchecken auf der Raketa | 600 Kilometer auf Lena und Aldan | Verhandlungen in Khandyga | Raus auf die Straße |
Nochmals zähe Verhandlungen |
Es geht endlich los... | Kyubeme | Tomtor
| Auf der Hauptstraße Ust-Nera Magadan
|
Susuman | Jogodnoje | Ankunft in Magadan |
Mittwoch, 16. Juli 2003
2:45 Uhr! Charly steht im Unterhemd vor der
Zimmertür und fragt, ob ich mitkomme. Nebenwirkungen der Vitamin B1-Einnahme oder einfach nur die Flasche
verwechselt? Nichts von beidem! Es gibt kein Wasser und er will daher mit dem Handtuch
über der Schulter zur Rezeption. "Da braucht es keiner Worte, da wissen alle sofort
Bescheid!" so sagt er. An der Rezeption weist man uns mit einem bedauernden Lächeln
auf ein Schild am Aufzug hin: "Heute von 1:00 Uhr bis 12:00 Uhr kein Wasser"!
Wir können uns nicht daran erinnern, ob es gestern abend schon dort gehangen hat. Nun
denn, Volker und Jürgen haben intuitiv gestern geduscht und Charly und ich müssen den
Kopf halt mal kurz in die Lena halten. Über 600 Flusskilometer auf der Lena und dem Aldan
liegen vor uns. Der Taxifahrer, der uns zum Hafen fährt, fingert sich den 50 Rubelschein
heraus. Die zwei Zehner, die ihm Jürgen zusammen mit dem Fünfziger aufgefächert
hinhält, ignoriert er einfach. Sie waren von uns eigentlich als Trinkgeld gedacht.
Passiert auch nicht mehr häufig auf der Welt vor allem nicht bei Taxifahrern. Um
3:45 Uhr sind wir am Anleger. Am Hafen ist der Bär los kein Vergleich mit der Ruhe am Flughafen. Laute Musik
dringt aus jeder der zahlreichen, bunt illuminierten Bier- und Schaschlikbuden.
"Fehlt nur noch ein Riesenrad und der Rummel wäre perfekt", so Volker! Außer
unserem Boot fahren noch zwei oder drei weitere zwischen 5:00 Uhr und 7:00 Uhr ab.
Um kurz nach vier beginnt das Wiegen des Gepäcks. Sämtliche Passagiere, bis auf uns, müssen dafür zurück hinter die Absperrung. Unsere Rucksäcke dürfen wir durch eine Nebentür als erste auf die Waage stellen. Als erste betreten wir anschließend auch das Boot. Die Raketa ist wie ein Flugzeugrumpf gebaut. Rechts und links des Mittelganges jeweils drei Sitze, in der vordersten Reihe nur jeweils zwei. Insgesamt sind es 12 Reihen. Wir belegen die erste Reihe. Die Fenster am Bug sind undurchsichtig verriegelt. Hinausschauen kann man nur aus den Seitenfenstern, die etwa einen halben Meter über der Wasserlinie liegen. Im Heck befindet sich eine Bank und man kann während der Fahrt draußen sitzen und den Blick über die Lenaufer schweifen lassen. Eine Treppe führt von hier aus nach oben in die Pilotenkanzel. Der Kahn ist schätzungsweise 6 m breit und 20 m lang. Einen separaten Gepäckraum gibt es nicht. Die Gepäckstücke verteilen sich in dem relativ breiten Mittelgang und vor den Sitzen. Charly klebt seine Wanderstiefel mit Pattex jedoch ohne nachhaltigen Erfolg. Die gesamte Sohle löst sich vom Schuh, weil die Zwischenschicht vollkommen zerbröselt ist. "Erst 11 Jahre im Einsatz, das Schreiben an den Hersteller wird sich gewaschen haben", denkt er bei sich und dreht die Tube wieder zu. Die Raketa geht ordentlich ab und macht weit weniger Krach als
angenommen. Charly und mir kommt da sofort die Fahrt auf dem Tonle Sap in Kambodscha ins
Gedächtnis. Die Lena fließt recht träge dahin. Lärchen- und Birkenwälder reichen fast
bis ans Ufer. Ab und zu sehen wir einige Häuser und sogar Autos. Den Abzweig in den Aldan
bekommen wir nicht direkt mit. Charly erkennt als erster, aufgrund der Fließrichtung des
Wassers, dass es nicht mehr die Lena sein kann. Außerdem ist das Aldanwasser lehmiger und
bräunlicher als das der Lena.
Strahlender Sonnenschein! Auf der Heckbank läßt
es sich am besten aushalten. Drinnen wird es merklich wärmer und damit auch stickiger. Es
scheint, als würde die Raketa mehrfach bis auf 20 bis 30 m ans Ufer heranfahren. Es sind
jedoch alles langgestreckte, bewaldete Inseln mitten auf dem Aldan. Nach etwa 10
Stunden legen wir in Khandyga an. Und wirklich, wir werden erwartet. Ehe wir uns näher
orientieren können, sitzen wir in einem russischen Kleinbus der Marke
"Kastenbrot" und fahren in Richtung Stadt; wenn man es denn Stadt nennen darf. Dass uns nicht spontan das
Wort "Mafioso" herausrutscht, ist einzig und allein unserer enormen
Selbstbeherrschung zuzuschreiben. Dieses Wort wird fast überall auf der Welt verstanden
und es hätte unsere ohnehin schon schlechte Verhandlungsposition sicher noch weiter
verschlechtert. Also erstmal schlucken lächelnd Halsabschneider murmeln und
ansonsten einfach die Ruhe bewahren. Aber davon geht der Preis auch nicht runter! Natürlich haben wir mit überhöhten Preisen gerechnet ("Lass die mal kommen dann bezahlen die jeden Preis..."), aber als zuvor auch einer der beiden Fahrer 40.000 Rubel in den Staub schreibt, müssen wir kollektiv lachen: Ne, Ne wir wollen den Bus nicht kaufen! Die beiden hatten anscheinend ihre Anweisungen. Zeit ist Geld und wir sind in echter Zeitnot wie sehr das können die gar nicht erahnen.
Es zieht uns zur Straße einfach mal die Situation
abschätzen! Den Daumen raushalten und warten, was passiert frei nach Charlys
Motto: "Man weiß ja nie!". Nach einer guten halbe Stunde ist immer noch nichts von dem Fahrer zu sehen. Zurück zu den Jungs oder nochmals bei Scherafisov vorbei und fragen, was er für die Strecke bis Susuman verlangt. Wir beschließen das Letztere. Wie sich im nachhinein herausstellen sollte, die falsche Entscheidung!
Während unserer Suche nach den Fahrern stehen Jürgen und Charly im Staub des Kolyma Highway. Die Situation an der Straße können die zwei am besten schildern: "Der Mücken erwehren wir uns erfolgreich
mit Autan. Entsprechend unserer Aufgabe beobachten wir die vorbeifahrenden LKWs und
sprechen darüber, ob wir nun mit Dietmars Urlaub auf Kuba tauschen wollen oder lieber
nicht. Außerdem diskutieren wir unser Verhalten an der ukrainischen Grenze vor einigen
Jahren. Damals haben wir für 150 DM (90 US $) Visagebühren die Reiseroute geändert und
sind nicht in der Ukraine gewesen. Heute halten wir dies für einen Fehler. Was sind schon
150 DM im Vergleich zu dem, was wir alles hätten erleben können? Herr Scherafisov sitzt im Unterhemd, inmitten einer kleinen Gruppe, auf der
Treppe vor dem Plattenbau. Es bereitet ihm sichtlich Probleme mit Hilfe seiner Krücken in
den 4. Stock zu gelangen. Wir kommen sofort zur Sache und fragen ihn nach dem Preis
bis Susuman. Was der Alte jetzt veranstaltet, ist mit unseren bescheidenen
Mathematikkenntnissen in keinster Weise nachzuvollziehen. Erst addiert er akribisch jeden
einzelnen Kilometer, um dann in einem genialen sibirischen Dreisatz auf 40.000 Rubel zu
kommen. Nicht schlecht immerhin ganze 2000 weniger als bis Magadan! Der Alte wirft ein Brotstückchen über die Brüstung. Gina (so nennt er eine Möwe) startet und schnappt das
Brot etwa 2 m über dem Boden mit dem Schnabel. Das ist das Signal für die anderen.
Etwa 20 Möwen kreisen nun in weiten Kreisen vor dem Balkon immer bereit, ein Brotstückchen zu ergattern. Einzig
seine Lieblingsmöwe traut sich jedoch, ein Stückchen direkt von der Balkonbrüstung und
später auch direkt aus der Hand des Alten zu holen. Dann klingelt das Telefon. Es ist der Fahrer, den
der Alte schon mehrfach zu erreichen versuchte. "Wir stehen schon über eine
Stunde an der "Hauptstraße" als um ca. 21:30 Uhr ein ähnlicher Kleinbus
vorfährt. Der Fahrer von eben und ein Freund, der etwas Englisch kann. Die Eröffnung des
Gespräches läuft etwas holprig. Die beiden müssten ja schon sagen, was sie von uns
wollen, aber dies tun sie nicht. Klar ist nur, dass sie nicht zum Abendschwätzchen in den
Staub und zu den Mücken gekommen sind, sondern um den "Deal" nochmals zu
besprechen. Kurz darauf stehen wir
wieder alle zusammen am Anfang der staubigen, aber verheißungsvollen Piste draußen vor
dem Ort. Es gibt jetzt zwei Preise mit zwei verschiedenen Treffpunkten zu zwei
verschiedenen Zeiten und keine richtige Alternative zu dem Kastenwagen. Charly ist schon während des Rückweges sichtlich unzufrieden mit dieser Entscheidung. "Der günstigste Preis ist mit den Fahrern direkt abgeschlossen worden und mit denen ist auch der Treffpunkt draußen vor dem Ort ausgemacht worden eben um 23:30 Uhr!". Um zu unterstreichen, dass wir die Fahrt zu dem günstigeren Preis in Anspruch nehmen wollen, sollten wir uns auch an den vereinbarten Treffpunkt in der Wildnis halten, so Charly. An der Kreuzung lassen wir uns, wie wenige Stunden zuvor, an dem Buswartehäuschen nieder und schauen, ob eines der umliegenden Magazine noch auf hat. Nach kaum einer Bierdosenlänge ergibt die angeregte Diskussion, dass wir wieder zurückkehren. Also aufrödeln, um deutlich vor 23:30 Uhr wieder am Treffpunkt zu sein.
Wieder lassen wir am Ende der Welt die
Rücksäcke in den Staub fallen. Die Straße ist nun vollständig vereinsamt. Die
Aussicht, auf einer LKW-Ladefläche 1500 Kilometer in der uns verbleibenden Zeit
zurückzulegen, verschwimmt immer mehr. Mitten in diese Szene prescht unser Kastenwagen! Es beginnt eine aufgeregte Diskussion aller Beteiligten, einschließlich Lena. Letztlich geht es ums Geld: Die Fahrer wollen oder können die 800 US $ nach unserer neuerlichen Verhandlung mit dem Alten nicht mehr aufrecht halten. Einer der Fahrer flucht vor sich hin, was wir uns von Lena übersetzen lassen: "Diese Deutschen 4 Stunden verhandeln und immer noch kein Ergebnis. Mir reicht's!" Und so stehen wir keine 10 Minuten später wieder allein auf der Straße. Die Kastenwagenfahrer sind missmutig und ohne jede weitere Vereinbarung abgezogen. Lena hat sich verabschiedet und uns zu verstehen gegeben, dass wir es schon machen sollten mit dem Kastenwagen und wenn nicht, dann sieht morgen alles wieder anders aus. Tja, da hat sie wohl recht. Die Einladung zur Übernachtung hat sie nicht wiederholt, obwohl wir ihr unsere (schlechte!) Situation erklärt haben: Das wir hier im Wald übernachten wollen und auf ein Hupzeichen ihres Fahrers aus dem Wald kommen würden und so weiter. Was nun? Der 23:30 Uhr-Termin hier draußen ist abgehakt, es gibt also keinen Grund mehr, hier weiter zu verweilen. Auf dem Weg zurück in den Ort taucht das "Kastenbrot" wieder auf. Innerhalb weniger Sekunden ist der Preis 30.000 Rubel ca. 1000 US $ festgemacht. Wir befürchten, dass durch weitere Unschlüssigkeit die Sache doch noch scheitern könnte. So dauert es nur wenige Augenblicke, bis unser Gepäck im Wagen verstaut ist und wir somit endgültig Tatsachen geschaffen haben. |
Donnerstag, 17. Juli 2003
Während
den folgenden zwei Stunden haben wir Gelegenheit, unsere Gedanken auf die bevorstehende
Fahrt auszurichten. Unsere Fahrer unternehmen eine ausgedehnte Rundtour durch den Ort. Es
wird weiteres Gepäck aufgenommen und eingekauft. Auch wir ergänzen unsere Vorräte. An
der Tankstelle wechseln 15.000 Rubel den Besitzer, die andere Hälfte ist in Magadan
fällig. Wir sprechen kaum miteinander, der wie sonst so spritzige Geist der Männergemeinschaft will sich nicht so recht entfalten. Die Erlebnisse der letzten Stunden waren so wirr, dass es uns allen später schwerfallen wird, den genauen Ablauf zu rekonstruieren. Einerseits sind wir froh, eine bis zuletzt unwahrscheinliche Chance wahrgenommen zu haben, das Ziel der Reise die Ostküste auf dem Landweg zu erreichen. Andererseits wirken weder Fahrzeug noch Fahrer so richtig Vertrauen erweckend. Durch die bisher "verlorenen" Tage können wir unser Ziel nur erreichen, wenn es jetzt gleichsam krampfhaft und verzweifelt im Durchmarsch nach Osten geht. Lange Aufenthalte, ob gewollt oder nicht, darf es nicht geben! So träumt vielleicht manch einer davon, wie es wohl
gewesen wäre, wenn wir erst mal unser Zelt in Lenas Garten aufgeschlagen hätten, und am
nächsten Morgen zusammen mit ihr in Ruhe die eine oder andere Option für das weitere
Fortkommen geprüft hätten. Sicher, wir haben das Beste aus der Situation rausgeholt,
aber das Beste muss absolut gesehen nicht auch gut sein. Die ersten 200 Kilometer fahren wir auf einer recht passablen Schotterpiste, was unseren Cheffahrer einige Male dazu verleitet, zu spät abzubremsen. Es ist zwar nicht unser Auto, aber wenn wir durch solche Unaufmerksamkeit ein Schlagloch voll mitnehmen und liegen ble iben, tangiert uns das schon. Wir mahnen zu vorsichtiger Fahrweise. Die getönten Scheiben des "Kastenbrotes" beeinträchtigen die Sicht sehr. Wir müssen uns schon tief herunterbeugen um durch das untere Drittel der seitlichen Scheiben die Landschaft sehen zu können.In Jakutsk haben wir in einem Kartenladen eine sehr detaillierte Karte des Kolyma Highway erstanden. Jede Kurve und jede Brücke, die heute wahrscheinlich gar nicht mehr existiert die Karte ist neun Jahre alt ist darin eingezeichnet. Kurz vor Kyubume nehmen wir einen älteren Mann mit, der sich mit seinem Auto mehrfach überschlagen hat. Außerdem ist er wohl ernstlich an der Schulter verletzt. In der Karte steht neben Kyubume ein rotes Kreuz und wir hoffen für ihn, das dies auch der Realität entspricht. Jedenfalls setzen wir ihn dort ab.
Das der Kolyma Highway eine gefährliche Strecke
ist, kann man in einigen Quellen nachlesen. Klaus Bednarz bezeichnet sie in seinem Buch
"Vom Baikal nach Alaska" als die gefährlichste Straße Russlands. Er schreibt
auch, dass die Trasse in ihrer ganzen Länge nur im Winter zu befahren ist. Wir werden
sehen! In Kyubume gibt es außer ein paar verstreuten, heruntergekommenen Holzhäusern,
einigen Autowracks und jeder Menge verrosteter Autoteile, nichts zu sehen. Wir sind
schnell wieder auf der Piste." Kurz hinter Tomtor legen wir unsere erste längere Rast ein. Nach gut 12 Stunden in der Karre auch wohlverdient, denke ich. Am steinigen Flu ssufer breiten wir unsere gesamten Utensilien aus. Leider zum erstenmal auf dieser Tour und so sitzt noch nicht jeder Handgriff. Auch unsere chinesischen Gasflaschen brauchen eine gewisse Einbrennphase. Als wir uns dann für Nudeln mit Sauce entschieden haben, unser Kochgeschirr geordnet und die Kaffeetöpfe aufgestellt haben, stellt sich jedoch zunehmend die gewohnte Routine ein.Bei unseren russischen Fahrern läuft das etwas anders ab: Schnell tragen sie ein paar trockene Äste zusammen und zünden sie an in der einen Hand einen Stock mit einem aufgespießten Wurststück und in der anderen die unvermeidliche Dose Bier. So geht das natürlich auch. Wir kochen erst mal für alle Kaffee dann kommen die Nudeln dran. Eine Rast am Fluss ist keine Rast, wenn man nicht die Wassertemperatur testet: Schweinekalt! Doch der Staub der Straße läßt uns keine Alternative. Bei 27 °C und strahlendem Sonnenschein kostet es uns auch nur wenig Überwindung. Nach dem Bad im Fluss noch einen Wodka, und dann packen wir langsam wieder zusammen.Die Landschaft wird jetzt wieder flacher, nachdem wir zwischen Khandyga und Kyubume einige passartige Wege gefahren sind. Nach jedem Stopp werden, im geschlossenen Auto, routinemäßig die eingedrungenen Mücken dezimiert.
Kurz vor der Grenze zur Region Magadan qualmt es im Motorraum. Ein angeschmortes Kabel! Während die beiden Fahrer den Fehler mit Isolierband beheben, präpariert sich Volker mit Autan die Klo rolle schon griffbereit. Die Flasche nimmt er natürlich mit es werden ja noch weitere Körperteile freigelegt. Es gibt zwar viele kleine Blaubeersträucher hier, aber es sieht nicht so aus, als würde noch eine reichhaltige Ernte herauskommen. Sie blühen zwar, doch die meisten sind aufgrund der Trockenheit fast gänzlich verdorrt. An den Flussufern liegen teilweise noch ausgedehnte Eisreste. Sie tauen im kurzen Sommer nicht vollständig weg.In Magadan Oblast wird die Straße schlaglochartig schlechter. Bei den Flussdurchfahrten schwappt die Bugwelle einige Male über die Windschutzscheibe. Befahrbare Brücken existieren nicht, obwohl die eigentlichen Brückenpfeiler aussehen, als wären sie noch intakt, aber die Auf- und Abfahrten fehlen. Trotz der teils spektakulären Flussquerungen, stellen diese nicht das größte Problem dar. Unübersichtlicher, weil in ihrer Tiefe nicht abschätzbar, sind die Schlammseen mitten auf der Piste. Schmelzwasser, das sich an diesen Stellen gesammelt hat. Eine Vertiefung, welche für einen großen LKW der Marke "Ural" kein Hindernis darstellt, kann für unser kleines Kastenbrot schon zum Problem werden trotz Vierradantrieb, Differentialsperre und höhergelegtem Geländefahrwerk! Einmal ist es fast so weit gewesen beinahe wäre die Karre umgekippt! |
Freitag, 18. Juli 2003
Trotz seiner forschen Fahrweise können wir unserem 1. Fahrer die
Übersicht bei Fluss- und Schlammdurchfahrten nicht absprechen. Gut sieben Stunden fahren
wir auf solch extremen Pisten, dann stoßen wir auf die Straße Ust-Nera Magadan.
Dies veranlaßt Charly zu einer Art Zwischenfazit: Volker rechnet anhand der Karte und der geschätzten durchschnittlichen Geschwindigkeit aus, dass wir gegen 1:00 Uhr die Hauptstraße erreichen müssten. Wir erreichen sie aber erst gegen 2:00 Uhr. Dies ist deshalb erwähnenswert, weil wir alle über eine längere Zeit ein erleichtertes (die Karre ist noch nicht steckengeblieben), aber noch kein erlösendes Gefühl (wie weit ist es noch bis zur Straße Ust-Nera Magadan?) haben. Seit Frankfurt haben wir alles getan, um unsere Reise zu beschleunigen. Ständig mussten wir mit zahlreichen zeitlichen Rückschlägen fertig werden. Der Druck, diesen schwierigen und unabwägbaren Teil der Strecke so schnell als möglich hinter uns bringen zu müssen, ist enorm (Eine nächtliche Schlafpause haben wir schon als nicht mehr akzeptabel angesehen). Uns ist in dieser Nacht stets gegenwärtig, dass wir mit dieser Geländefahrt jetzt den "point of no return" überschritten haben, ohne sicheres bewohntes Gebiet auf der anderen Seite erreicht zu haben. Unsere Reise musste zügig erfolgen, um bei einer eventuellen Panne in diesem Teilabschnitt möglichst viel Zeit zu haben uns selbst zu helfen. Das bedeutet entweder mehr Zeit zum marschieren zu benötigen oder darauf zu hoffen durch andere Fahrzeuge die es aber offensichtlich nicht gibt mitgenommen zu werden. Um so erleichternder ist die Gewissheit, dass wir uns jetzt in einem Abstand zur Hauptstraße befinden, der zur Not zu Fuß zu bewältigen ist. An Bären oder Wölfe denken wir in diesem Moment nicht. All diese Gedanken währten dank Volkers zu optimistischer Berechnung entsprechend länger. Als wir die Hauptstraße erreichen, verändern sich unsere Gedanken und Vorstellungen erneut. Ohne Würdigung des bereits Geschafften denken wir alle daran, viel ausgelassen und wahrscheinlich Schönes versäumt zu haben: Jürgen trauert um die nicht stattgefundene Übernachtung in der Wildnis mit der Gewissheit, wilde Tiere um sich zu haben. Norres träumt von einer ausgiebigen Blaubeersuche und anschließendem Pfannkuchen backen in der Taiga. Volker spricht von der Szene, in der das fahle Mondlicht eine eingestürzte Brücke in ein stimmungsvolles Bilderbuchmotiv verwandelt hat, er aber nicht "Halt!" gerufen hat. Und ich ärgere mich darüber, dass wir in Tomtor nicht die Kneipe eines Moslems, die Wetterstation und das Museum besucht haben. Man kann sich im Nachhinein nur einreden, dass es keinen Spaß gemacht hätte in der mückenverseuchten Gegend zu zelten, nach Blaubeeren zu suchen und die Mondnächte zu genießen. Die Wetterstation läuft sowieso vollautomatisch, das Museum hat bestimmt Ruhetag und der Kneipenwirt ist zwischenzeitlich sicher Imam geworden.
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Frühstück
im Staub der Dorfstraße von Jagodnoje! Ein exponierter Platz
wirklich lauschig! Das meinen auch zwei Milizionäre, die unsere Papiere
kontrollieren. Ein Grinsen können sie sich jedenfalls nicht verkneifen, ob des Anblicks
der vier, Kaffee trinkenden, schon etwas heruntergekommen aussehenden Typen. Sie ordnen
uns sicher in die Kategorie Penner oder Verrückte ein. Charly informiert die beiden
anhand unserer Papiere und Tickets über unsere Reiseroute. Volker glaubt, dass sie erst
von uns abließen, als sie erkannten, dass wir in einigen Tagen das Land wieder verlassen
werden. Unsere Fahrer wollen mit der Sache nichts zu tun haben und bleiben in ihrem Bus
hocken. Nebenher erkundigt sich Charly noch nach einem Museum, welches ein Privatmann hier
in Jagodnoje betreiben soll. Er soll allerhand Sachen über die Gulags in der Gegend
zusammengetragen haben. Ein wenig Glück muss auch mal sein: Dank der Unterstützung
einiger Jagodnojer finden wir es. Nach dem Frühstück fahren wir dort vorbei. Es ist jetzt ca. 8:00 Uhr. Den Museumseigner, -gründer und -führer finden wir durch Nachfragen in einem Nachbarhaus. Als er uns sieht, schaut er nur wenig irritiert, auch nicht gerade erfreut; aber dann zeigt er uns gerne sein Museum. Dass wir seinen Namen aus dem Internet haben, scheint für ihn nichts Neues zu sein. Leider spricht er kein Englisch. Er heißt Ivan Panikarov und sein ganzer Stolz was man ihm aber nicht unbedingt ansieht ist in einer ca. 50 m² großen Wohnung ausgestellt. Jeder Quadratmeter wird genutzt. Gegenstände aller Art aus den Gulags der Umgebung sind zu finden und die Wände sind zugepflastert mit Bildern, offiziellen Briefen, Plakaten und Devotonalien. Viele dieser Plakate beschäftigen sich auch mit dem großen Vaterländischen Krieg, also dem Kampf der Roten Armee gegen die deutsche Besetzung und dem Sieg über die Wehrmacht. Auch Einzelschicksale werden dokumentiert. Hierzu steht eine riesige Regalwand ca. 3 m² mit ca. 200 kleinen Einzelfächern über seinem Schreibtisch. Briefkontakte mit ehemaligen Gulaghäftlingen, auch aus Deutschland, werden hier geordnet aufbewahrt.
Unsere beiden Fahrer sind zwar mit in die Wohnung
gekommen, interessieren sich aber kaum für die Details. Nur an einem Foto, auf dem jemand
dargestellt ist, der am ganzen Körper tätowiert ist, bleiben sie stehen und diskutieren.
Wir tragen uns in ein Gästebuch ein, welches häufiger kontaktiert wurde, als wir dem
Museum zugetraut hätten. Es finden sich kaum deutsche Einträge. Danach entrichten wir
noch eine Spende und verlassen das Haus nach gut 45 Minuten.
Unsere beiden Fahrer sehen mit ihren kahl
geschorenen Köpfen und ihren Tätowierungen oder sind sie nur aufgemalt
ziemlich martialisch aus. Sie scheinen nur eins im Kopf zu haben: Uns so schnell wie nur
möglich in Magadan abzuliefern! Wir lassen sie gewähren. Um 16:00 Uhr erreichen wir den
Flughafen von Magadan. Er liegt ca. 60 Kilometer nördlich der Stadt. Hier treffen wir
dann auch Valentina, mit der wir schon einige E-Mails ausgetauscht haben. Unsere Tickets
erhalten wir morgen in einem Büro in Magadan, sagt sie uns. |
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