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Nochmals zähe Verhandlungen   |   Es geht endlich los...  |  Kyubeme   |   Tomtor   |  Auf der Hauptstraße Ust-Nera – Magadan  |
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Mittwoch, 16. Juli 2003

2:45 Uhr! Charly steht im Unterhemd vor der Zimmertür und fragt, ob ich mitkomme. Nebenwirkungen der Vitamin B1-Einnahme oder einfach nur die Flasche verwechselt? Nichts von beidem! Es gibt kein Wasser und er will daher mit dem Handtuch über der Schulter zur Rezeption. "Da braucht es keiner Worte, da wissen alle sofort Bescheid!" so sagt er. An der Rezeption weist man uns mit einem bedauernden Lächeln auf ein Schild am Aufzug hin: "Heute von 1:00 Uhr bis 12:00 Uhr kein Wasser"! Wir können uns nicht daran erinnern, ob es gestern abend schon dort gehangen hat. Nun denn, Volker und Jürgen haben intuitiv gestern geduscht und Charly und ich müssen den Kopf halt mal kurz in die Lena halten. Über 600 Flusskilometer auf der Lena und dem Aldan liegen vor uns. Der Taxifahrer, der uns zum Hafen fährt, fingert sich den 50 Rubelschein heraus. Die zwei Zehner, die ihm Jürgen zusammen mit dem Fünfziger aufgefächert hinhält, ignoriert er einfach. Sie waren von uns eigentlich als Trinkgeld gedacht. Passiert auch nicht mehr häufig auf der Welt – vor allem nicht bei Taxifahrern. Um 3:45 Uhr sind wir am Anleger. Am Hafen ist der Bär los kein Vergleich mit der Ruhe am Flughafen. Laute Musik dringt aus jeder der zahlreichen, bunt illuminierten Bier- und Schaschlikbuden. "Fehlt nur noch ein Riesenrad und der Rummel wäre perfekt", so Volker! Außer unserem Boot fahren noch zwei oder drei weitere zwischen 5:00 Uhr und 7:00 Uhr ab.

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Morgens  um 4 im Hafen von Jakutsk. Im Wasser der Lena liegen dichtgedrängt die Raketas, allesamt aus besseren Zeiten der Sowjetunion. Wenn heute ein Boot nicht mehr zu reparieren ist, wird die Strecke nicht mehr bedient. Im Sommer sind diese Raketas neben dem Flugzeug die einzige Verkehrsmöglichkeit.

Um kurz nach vier beginnt das Wiegen des Gepäcks. Sämtliche Passagiere, bis auf uns, müssen dafür zurück hinter die Absperrung. Unsere Rucksäcke dürfen wir durch eine Nebentür als erste auf die Waage stellen. Als erste betreten wir anschließend auch das Boot. Die Raketa ist wie ein Flugzeugrumpf gebaut. Rechts und links des Mittelganges jeweils drei Sitze, in der vordersten Reihe nur jeweils zwei. Insgesamt sind es 12 Reihen. Wir belegen die erste Reihe. Die Fenster am Bug sind undurchsichtig verriegelt. Hinausschauen kann man nur aus den Seitenfenstern, die etwa einen halben Meter über der Wasserlinie liegen. Im Heck befindet sich eine Bank und man kann während der Fahrt draußen sitzen und den Blick über die Lenaufer schweifen lassen. Eine Treppe führt von hier aus nach oben in die Pilotenkanzel. Der Kahn ist schätzungsweise 6 m breit und 20 m lang. Einen separaten Gepäckraum gibt es nicht. Die Gepäckstücke verteilen sich in dem relativ breiten Mittelgang und vor den Sitzen. Charly klebt seine Wanderstiefel mit Pattex – jedoch ohne nachhaltigen Erfolg. Die gesamte Sohle löst sich vom Schuh, weil die Zwischenschicht vollkommen zerbröselt ist. "Erst 11 Jahre im Einsatz, das Schreiben an den Hersteller wird sich gewaschen haben", denkt er bei sich und dreht die Tube wieder zu.

Die Raketa geht ordentlich ab und macht weit weniger Krach als angenommen. Charly und mir kommt da sofort die Fahrt auf dem Tonle Sap in Kambodscha ins Gedächtnis. Die Lena fließt recht träge dahin. Lärchen- und Birkenwälder reichen fast bis ans Ufer. Ab und zu sehen wir einige Häuser und sogar Autos. Den Abzweig in den Aldan bekommen wir nicht direkt mit. Charly erkennt als erster, aufgrund der Fließrichtung des Wassers, dass es nicht mehr die Lena sein kann. Außerdem ist das Aldanwasser lehmiger und bräunlicher als das der Lena.
Die Passagiere sind bis auf uns und einige Russen alle jakutischer Abstammung. Die Fahrt kostet für sie genauso wie für uns 50 US $. Eine jakutische Familie steigt mitten im Fluss auf ein kleines Motorboot um. Dazu stoppt die Raketa und dreht sich in der Strömung fast um 180 Grad. Dann läßt der Kapitän die Maschine wieder anwerfen.
Die Bäume reichen hier so dicht ans Ufer, dass an vielen Stellen ganze Waldstücke in den Fluss gerissen wurden. Vermutlich eine Folge des Eisgangs. Kurz nach dem Absetzen der Familie legen wir einen wohl planmäßigen Stopp an einem Tankschiff ein.

IMGP1423k.JPG (9724 Byte) Mitten im Fluss ankert ein etwas heruntergekommen aussehendes Ungetüm – aus der Nähe kaum als Schiff zu erkennen. Wir sehen vier oder fünf Leute darauf. Eine Frau steht mit Putzeimer und Schrubber an der Reling. Es wird ein Plausch gehalten – Fische wechseln die Besitzer und getankt wird natürlich auch. Im Sommer ist diese Tankstelle wahrscheinlich durchgehend geöffnet.

Strahlender Sonnenschein! Auf der Heckbank läßt es sich am besten aushalten. Drinnen wird es merklich wärmer und damit auch stickiger. Es scheint, als würde die Raketa mehrfach bis auf 20 bis 30 m ans Ufer heranfahren. Es sind jedoch alles langgestreckte, bewaldete Inseln mitten auf dem Aldan. Nach etwa 10 Stunden legen wir in Khandyga an. Und wirklich, wir werden erwartet. Ehe wir uns näher orientieren können, sitzen wir in einem russischen Kleinbus der Marke "Kastenbrot" und fahren in Richtung Stadt; wenn man es denn Stadt nennen darf.
Ziel ist die Wohnung unseres Vermittlers – jener bereits angesprochene Scherafisov. Der Fahrer und der Beifahrer – beide so um die 25 – fast kahlgeschoren und mit Sonnenbrille – setzen uns vor einem alten Permafrostplattenbau ab. Wir treffen Herrn Scherafisov im 4. Stock. Jürgen und Volker warten draußen und bewachen das Gepäck. Charly und ich folgen den beiden durch das nach Urin und Katze stinkende Treppenhaus. Erst soll Charly im Hausflur warten, aber er will mich nicht allein in die Wohnung lassen. Wir ziehen unsere Schuhe aus und werden in ein kleines Arbeitszimmer gebeten. Nach kurzer Begrüßung sitzt uns Herr Scherafisov mit Stift und Taschenrechner gegenüber.

Er ist ein älterer, kleiner Mann und wie sich später zeigen sollte – gehbehindert. Über unser Anliegen weiß er anscheinend bestens Bescheid, beginnt er doch sofort damit, die Strecke auf der Karte nachzuzeichnen und die Kilometer zu addieren. In einer Pause führen wir ihm noch die von Rafael gemachten Aufzeichnungen vor Augen. Er registriert diese nur beiläufig, bemerkt aber, dass man über Ust-Nera keinesfalls fahren könne. Nun ja, das soll einer verstehen! Am Telefon ging das gestern noch problemlos. Letztendlich endete die gesamte Diskutier- und Rechnerei damit, dass es von hier bis Magadan 42.000 Rubel kostet, und da hat er schon großzügig 10.000 Rubel abgezogen – ausgerechnet hat er nämlich 52.000 Rubel!

Dass uns nicht spontan das Wort "Mafioso" herausrutscht, ist einzig und allein unserer enormen Selbstbeherrschung zuzuschreiben. Dieses Wort wird fast überall auf der Welt verstanden und es hätte unsere ohnehin schon schlechte Verhandlungsposition sicher noch weiter verschlechtert. Also erstmal schlucken – lächelnd Halsabschneider murmeln – und ansonsten einfach die Ruhe bewahren. Aber davon geht der Preis auch nicht runter!
Wir müssen schnell erkennen, dass mit Herrn Scherafisov zum jetzigen Zeitpunkt nicht mehr zu verhandeln ist. Wir verabschieden uns und diskutieren unsere Lage vor dem Haus. 42.000 Rubel, das sind knapp 1400 US $ – das legt der kostenbewußte Ostheimer nicht so schnell auf den Tisch! Schon allein deshalb nicht, weil wir unsere Fühler noch gar nicht in der hiesigen Truckerszene ausgestreckt haben. Und so läßt uns denn auch das zweite Angebot der beiden mutmaßlichen Fahrer – 1100 US $ – zunächst noch kalt.

Natürlich haben wir mit überhöhten Preisen gerechnet ("Lass die mal kommen dann bezahlen die jeden Preis..."), aber als zuvor auch einer der beiden Fahrer 40.000 Rubel in den Staub schreibt, müssen wir kollektiv lachen: Ne, Ne – wir wollen den Bus nicht kaufen! Die beiden hatten anscheinend ihre Anweisungen. Zeit ist Geld und wir sind in echter Zeitnot – wie sehr – das können die gar nicht erahnen.

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Eine Bushaltestelle dient uns für eine kurze Rast auf dem Weg zum Ortsausgang von Khandyga.

Es zieht uns zur Straße – einfach mal die Situation abschätzen! Den Daumen raushalten und warten, was passiert – frei nach Charlys Motto: "Man weiß ja nie!".
Nach einer kleinen Erfrischung – die bereits gekauften gefrorenen Bierdosen tauschen wir wieder in trinkbare um – legen wir, umgeben von Staub und Mücken, die ersten Meter auf dem Kolyma Highway zurück.
Etwa 1 km außerhalb des Dorfes lassen wir uns am Straßenrand nieder, um die LKW-Frequenz zu erkunden. Außer einem Wasser-LKW, der die Schotterpiste nass macht jedoch nicht ganz bis zu der Stelle, an der wir stehen – tut sich eine gute Stunde nichts. Dass wir anscheinend nicht unbeobachtet geblieben sind, erkennen wir, als das getönte "Kastenbrot" nicht weit von uns in eine kleine Seitenstraße einbiegt. Nun, die Verhandlungen sind ja auch noch nicht abgeschlossen.
Volker macht den Vorschlag, die Jungs in der Seitenstraße nochmals zu kontaktieren. Wir stimmen ihm voll und ganz zu. Bis Susuman würde es uns ja schon reichen. Vielleicht ist der Preis bis dahin ja akzeptabel. Von Susuman sind es noch etwa 650 km bis Magadan und laut unseren Informationen fahren täglich Busse auf dieser Strecke.

Volker und ich marschieren also los. Charly, Jürgen und die Mücken bewachen das Gepäck.
In dem Seitenweg ist der Wagen jedoch nicht mehr zu erblicken. Also beschließen wir, die Jungs telefonisch zu kontaktieren die Nummer ist Bestandteil des 1100 US $ Angebots. Trotz der freundlichen Unterstützung eines Magazinbesitzers können wir den Fahrer nicht erreichen. Wir glauben jedoch verstanden zu haben, dass er, wenn er aufgetrieben wird, hier am Magazin vorbeikommt. Wir warten also hier. Wenn der ultimative LKW mit vier Schlafplätzen auf der überdachten, gefederten Ladefläche vorbeikommt, würden die Jungs bestimmt nicht ohne uns nach Magadan starten.

Nach einer guten halbe Stunde ist immer noch nichts von dem Fahrer zu sehen. Zurück zu den Jungs oder nochmals bei Scherafisov vorbei und fragen, was er für die Strecke bis Susuman verlangt. Wir beschließen das Letztere. Wie sich im nachhinein herausstellen sollte, die falsche Entscheidung!

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Hausanstrich in Khandyga.
Die Hauswände müssen im Winter -50 °C trotzen.

Während unserer Suche nach den Fahrern stehen Jürgen und Charly im Staub des Kolyma Highway. Die Situation an der Straße können die zwei am besten schildern:

"Der Mücken erwehren wir uns erfolgreich mit Autan. Entsprechend unserer Aufgabe beobachten wir die vorbeifahrenden LKWs und sprechen darüber, ob wir nun mit Dietmars Urlaub auf Kuba tauschen wollen oder lieber nicht. Außerdem diskutieren wir unser Verhalten an der ukrainischen Grenze vor einigen Jahren. Damals haben wir für 150 DM (90 US $) Visagebühren die Reiseroute geändert und sind nicht in der Ukraine gewesen. Heute halten wir dies für einen Fehler. Was sind schon 150 DM im Vergleich zu dem, was wir alles hätten erleben können?
Übertragen auf unsere momentane Lage kommen wir zu dem Schluss, dass es natürlich richtig ist, den besten Preis auszuhandeln – aber es wäre ärgerlich, wenn die Fahrt nach Magadan an 100
€ pro Person scheitern würde und wir nach Jakutsk zurückfahren müssen. Währenddessen fahren auffallend viele leere LKWs mit schwarz-dreckiger Ladefläche aus der Stadt hinaus und ähnlich viele fahren – wahrscheinlich mit Kohle beladen – in die Stadt hinein. Sieht alles nicht nach Fernverkehr aus. Einer der LKWs fährt sogar langsamer und wartet auf unser Zeichen, mitfahren zu wollen. Wir reagieren jedoch nicht, da wir ja schlecht ohne unsere Freunde die Fahrt auf einer LKW-Ladefläche beginnen können. Langsam mache ich mir Sorgen, weil die Beiden nicht zurückkommen. Jürgen versucht mich zu beruhigen: "Entweder ist dies ein gutes Zeichen oder ein schlechtes. Und die Wahrscheinlichkeit, dass hier etwas passiert ist, ist unserer Erfahrung nach äußerst gering."

Herr Scherafisov sitzt im Unterhemd, inmitten einer kleinen Gruppe, auf der Treppe vor dem Plattenbau. Es bereitet ihm sichtlich Probleme mit Hilfe seiner Krücken in den 4. Stock zu gelangen. Wir kommen sofort zur Sache und fragen ihn nach dem Preis bis Susuman. Was der Alte jetzt veranstaltet, ist mit unseren bescheidenen Mathematikkenntnissen in keinster Weise nachzuvollziehen. Erst addiert er akribisch jeden einzelnen Kilometer, um dann in einem genialen sibirischen Dreisatz auf 40.000 Rubel zu kommen. Nicht schlecht – immerhin ganze 2000 weniger als bis Magadan!
Unser Einwand, dass da doch etwas nicht stimmen könne, gipfelt schließlich darin (zwischenzeitlich rechnete er noch mal 26.000 Rubel und auch 54.000 Rubel aus), dass er groß 40.000 auf einen Zettel schreibt
mit der flachen Hand draufhaut und basta ruft. Wenn wir das den Jungs auf der Straße erzählen, denken sie, wir wollen sie verarschen!
Aber es hilft nichts. Volker drängt schon seit geraumer Zeit darauf, die beiden zu informieren. Vielleicht hat sich ja auch bei ihnen was Neues ergeben. Wir einigen uns schließlich darauf, dass ich hier noch beim Alten bleibe und Volker zurück zu Charly und Jürgen läuft. Für den Alten ist die Verhandlung jedoch abgeschlossen.
"Was ist schon Geld", sagt er und zeigt dabei auf seine Beine so deute ich jedenfalls seine Äußerung. Kurz danach werde ich ins Wohnzimmer gebeten. Ein Gläschen Wodka vielleicht? Nix da, der Alte deutet auf einen kleinen Hocker auf dem Balkon, auf dem ich Platz nehmen soll. Seine Frau, die bisher gar nicht in Erscheinung getreten ist, reicht ihm eine Tüte mit kleinen Brotstückchen. Kaum hat auch er auf einem Hocker auf dem Balkon Platz genommen, landet auch schon eine Möwe auf der etwa 1 m entfernten waagerechten Antennenstange.

Der Alte wirft ein Brotstückchen über die Brüstung. Gina (so nennt er eine Möwe) startet und schnappt das Brot etwa 2 m über dem Boden mit dem Schnabel. Das ist das Signal für die anderen. Etwa 20 Möwen kreisen nun in weiten Kreisen vor dem Balkon immer bereit, ein Brotstückchen zu ergattern. Einzig seine Lieblingsmöwe traut sich jedoch, ein Stückchen direkt von der Balkonbrüstung und später auch direkt aus der Hand des Alten zu holen.
Der Alte lächelt zufrieden. Jeden Tag im Sommer um die gleiche Zeit füttere er sie, sagt er. Die glutrote Sonne im Hintergrund, die zutraulichen Möwen, der zufriedene alte Mann und seine noch ältere Nachbarin auf dem Nebenbalkon (die jedes Mal auflacht, wenn einer Möwe ein besonders kurioses Flugmanöver gelingt) ergeben ein fast schon romantisches Bild.
In den Gärten werden die Kartoffeln gegossen. Sie wachsen hier in einem Hochbeet, etwa 20 cm über dem Boden. Die Bretterbeete sind etwa 1,5 m breit und 4 bis 5 m lang. Dem Regenwasser mischen die Leute ein Pulver bei, welches das Wasser braunrot färbt. Wahrscheinlich ein Düngemittel denn schnell wachsen, das müssen die Sachen hier, in einer der kältesten Regionen der Erde.

Dann klingelt das Telefon. Es ist der Fahrer, den der Alte schon mehrfach zu erreichen versuchte.
Hm, irgendwie dumm gelaufen, denke ich! Die haben uns ja schon ein Angebot von 1100 US $ gemacht. Ich verspüre jetzt den Drang, zurück zu den Jungs zu müssen. Scherafisov sagt noch, dass wir um 24:00 Uhr alle hier sein sollen, dann würde es losgehen.
Auf der Straße kommt mir Volker schon entgegen. "Wo sind die anderen, frage ich". "Stehen immer noch im Staub, aber es gibt Neuigkeiten", entgegnet er! Lass es dir von Jürgen und Charly erzählen:

"Wir stehen schon über eine Stunde an der "Hauptstraße" als um ca. 21:30 Uhr ein ähnlicher Kleinbus vorfährt. Der Fahrer von eben und ein Freund, der etwas Englisch kann. Die Eröffnung des Gespräches läuft etwas holprig. Die beiden müssten ja schon sagen, was sie von uns wollen, aber dies tun sie nicht. Klar ist nur, dass sie nicht zum Abendschwätzchen in den Staub und zu den Mücken gekommen sind, sondern um den "Deal" nochmals zu besprechen.
Also erklären wir dem Freund was bisher verhandelt wurde und das uns die bisherigen Preisangebote alle zu hoch sind; und dass wir gedenken den nächsten Truck zu nehmen. Trotzdem fragen wir nach dem Preis für eine Fahrt nach Susuman. Die Reaktion läßt etwas auf sich warten. Zuerst tut der Fahrer so, als ob er das alles nicht richtig verstanden hat. Das Englisch des Freundes reicht für diese Art der Konversation aber allemal aus.
Nein, nur bis Susuman, dass gehe nicht, sagt er sinngemäß. Er will es wohl auch einfach nicht. Aber er hat wohl verstanden, dass wir den ersten Teil der Strecke
eben bis Susuman unbedingt mit ihnen fahren wollen. In Ordnung, dann verhandeln wir halt weiter bis Magadan.
Wir sprechen über die Kosten, die der Fahrer haben wird. Er möchte für sich gerne 400 US $, kurz darauf 600 US $. Dazu käme noch der Sprit für die Hin- und Rückfahrt. Wir rechnen den beiden einen Spritverbrauch von 200 US $ vor (2 x 1.500 km x 20 l / 100 km bei einem Spritpreis von 10 Rubel pro Liter). Macht zusammen 800 US $. Damit ist der Fahrer einverstanden. Wir wiederholen die Zahl mehrmals und weisen darauf hin, dass unsere Freunde dazu noch nicken müssen. Aber wir sagen auch, dass wir da kein Problem sehen. Wir verabreden uns für 23:30 Uhr hier an dieser Stelle und weg sind die beiden.
Um ein Haar hätte Jürgen diesen Erfolg ohne die anderen begossen. Wir hauen uns ein wenig auf die Schultern, stellen fest, wie schön doch das Leben hier ist, da hält – von außerhalb der Stadt kommend
ein Auto. Die Beifahrerin steigt aus und spricht uns auf russisch an. Ich antworte ihr: "Njet pah ni mah ruski!" Sie kommt daraufhin sofort auf uns zu und spricht uns auf deutsch an. Sie heiße Lena (wie auch sonst in diesem Land) und wolle wissen, was wir denn hier machen. Wir erzählen ihr in Kurzform was bisher passiert ist. Ob sie Mitleid mit uns hat, sich über eine deutsche Konversation freut oder einfach nur von den Gefahren hier draußen weiß, können wir nicht mit Sicherheit sagen; jedenfalls lädt sie uns für den Fall, dass unser "Deal" platzt, zu sich nach Hause zum Übernachten ein. Außerdem will sie sich um eine Alternative für unsere Fahrt nach Susuman bzw. Magadan bemühen. Schnell notieren wir ihre Adresse und schon ist sie wieder weg.
Unsere Freude steigt fast ins Unbeschreibliche: "Mensch, dieses Russland, dieses Sibirien!" Das glauben uns die Freunde nie. Apropos Freunde: Im Staub der Straße, mit der Abendsonne im Rücken, kommt eine Gestalt auf uns zu. Wir erkennen nur die Silhouette und raten, ob dies einer unserer Mitstreiter ist. Erst als Volker ca. 50 Meter vor uns steht, erkennen wir ihn. Er tritt aus einem Brei aus Staub, Mücken und Abendsonne heraus.
Wir empfangen ihn mit der Frage, wo er und Norres denn abgeblieben sind. Aber so sorgenvoll, wie er erwartet hat, ist unsere Stimmung nicht. Auch wundert er sich, dass uns der Staub und die Mücken nichts auszumachen scheinen. Für ihn liegt der Verdacht nahe, dass wir uns einen zu großen Schluck aus der Wodkaflasche genehmigt haben. Dies verneinen wir heftig und Jürgen erzählt was bisher passiert ist. Seine Anerkennung und Freude drückt Volker durch die Frage aus: "Und das alles kannst Du mir so emotionslos erzählen?".
Schnell ist berichtet, was Volker und Norres erlebt haben und wir einigen uns darauf, dass Volker Norres hierher holen soll. Er nimmt eine Ladung Autan und trottet wieder in den Dunst."

Kurz darauf stehen wir wieder alle zusammen am Anfang der staubigen, aber verheißungsvollen Piste draußen vor dem Ort. Es gibt jetzt zwei Preise mit zwei verschiedenen Treffpunkten zu zwei verschiedenen Zeiten und keine richtige Alternative zu dem Kastenwagen.
Es ist jetzt 22:00 Uhr. Die Strategie des weiteren Vorgehens wird kontrovers diskutiert: Sollen wir einfach nur warten? Und wenn ja
– wo? Im ersten Ansatz setzt sich Volker durch, der darauf drängt, zur bereits bekannten "großen" Kreuzung zurückzukehren und dort der Dinge zu harren. Die Kreuzung ist quasi der letzte uns bekannte zivilisierte Punkt im Ort und liegt gleichzeitig in der Mitte zwischen den vereinbarten Treffpunkten.
Charly ist schon während des Rückweges sichtlich unzufrieden mit dieser Entscheidung. "Der günstigste Preis ist mit den Fahrern direkt abgeschlossen worden – und mit denen ist auch der Treffpunkt draußen vor dem Ort ausgemacht worden –
eben um 23:30 Uhr!". Um zu unterstreichen, dass wir die Fahrt zu dem günstigeren Preis in Anspruch nehmen wollen, sollten wir uns auch an den vereinbarten Treffpunkt in der Wildnis halten, so Charly.
An der Kreuzung lassen wir uns, wie wenige Stunden zuvor, an dem Buswartehäuschen nieder und schauen, ob eines der umliegenden Magazine noch auf hat. Nach kaum einer Bierdosenlänge ergibt die angeregte Diskussion, dass wir wieder zurückkehren. Also aufrödeln, um deutlich vor 23:30 Uhr wieder am Treffpunkt zu sein.

IMGP1437k.JPG (21839 Byte) Im Staub des Kolyma Highways.

Wieder lassen wir am Ende der Welt die Rücksäcke in den Staub fallen. Die Straße ist nun vollständig vereinsamt. Die Aussicht, auf einer LKW-Ladefläche 1500 Kilometer in der uns verbleibenden Zeit zurückzulegen, verschwimmt immer mehr.
Apropos verschwimmt! Plötzlich löst sich aus dem Dunst des Kolyma Highway der Umri
ss eines Autos. Es hält und Lena steigt aus! Die restlichen Insassen bleiben im Auto und erwehren sich bei geöffnetem Fenster der Mücken. Lena wird von Charly zur Begrüßung in einen Nebel aus Autan gehüllt. Volker schaut ob dieser Peinlichkeit betroffen zu Boden. Er kann nicht wissen, dass diese Form der Vertrautheit bereits beim ersten Zusammentreffen erprobt wurde. Der Tenor ihrer Neuigkeiten ist: Es gibt momentan niemanden, der uns fahren kann. Alle ihr bekannten "Taxifahrer" befinden sich zur Zeit an einem kleinen, 70 Kilometer entfernten Flughafen.
Mitten in diese Szene prescht unser Kastenwagen!
Es beginnt eine aufgeregte Diskussion aller Beteiligten, einschließlich Lena. Letztlich geht es ums Geld: Die Fahrer wollen oder können die 800 US $ nach unserer neuerlichen Verhandlung mit dem Alten nicht mehr aufrecht halten. Einer der Fahrer flucht vor sich hin, was wir uns von Lena übersetzen lassen: "Diese Deutschen – 4 Stunden verhandeln und immer noch kein Ergebnis. Mir reicht's!"
Und so stehen wir keine 10 Minuten später wieder allein auf der Straße. Die Kastenwagenfahrer sind missmutig und ohne jede weitere Vereinbarung abgezogen. Lena hat sich verabschiedet und uns zu verstehen gegeben, dass wir es schon machen sollten mit dem Kastenwagen – und wenn nicht, dann sieht morgen alles wieder anders aus. Tja, da hat sie wohl recht. Die Einladung zur Übernachtung hat sie nicht wiederholt, obwohl wir ihr unsere (schlechte!) Situation erklärt haben: Das wir hier im Wald übernachten wollen und auf ein Hupzeichen ihres Fahrers aus dem Wald kommen würden und so weiter.

Was nun? Der 23:30 Uhr-Termin hier draußen ist abgehakt, es gibt also keinen Grund mehr, hier weiter zu verweilen. Auf dem Weg zurück in den Ort taucht das "Kastenbrot" wieder auf. Innerhalb weniger Sekunden ist der Preis 30.000 Rubel – ca. 1000 US $ festgemacht. Wir befürchten, dass durch weitere Unschlüssigkeit die Sache doch noch scheitern könnte. So dauert es nur wenige Augenblicke, bis unser Gepäck im Wagen verstaut ist und wir somit endgültig Tatsachen geschaffen haben.

Donnerstag, 17. Juli 2003

Während den folgenden zwei Stunden haben wir Gelegenheit, unsere Gedanken auf die bevorstehende Fahrt auszurichten. Unsere Fahrer unternehmen eine ausgedehnte Rundtour durch den Ort. Es wird weiteres Gepäck aufgenommen und eingekauft. Auch wir ergänzen unsere Vorräte. An der Tankstelle wechseln 15.000 Rubel den Besitzer, die andere Hälfte ist in Magadan fällig.
Wir sprechen kaum miteinander, der wie sonst so spritzige Geist der Männergemeinschaft will sich nicht so recht entfalten. Die Erlebnisse der letzten Stunden waren so wirr, dass es uns allen später schwerfallen wird, den genauen Ablauf zu rekonstruieren. Einerseits sind wir froh, eine bis zuletzt unwahrscheinliche Chance wahrgenommen zu haben, das Ziel der Reise – die Ostküste – auf dem Landweg zu erreichen. Andererseits wirken weder Fahrzeug noch Fahrer so richtig Vertrauen erweckend.
Durch die bisher "verlorenen" Tage können wir unser Ziel nur erreichen, wenn es jetzt gleichsam krampfhaft und verzweifelt im Durchmarsch nach Osten geht. Lange Aufenthalte, ob gewollt oder nicht, darf es nicht geben!

So träumt vielleicht manch einer davon, wie es wohl gewesen wäre, wenn wir erst mal unser Zelt in Lenas Garten aufgeschlagen hätten, und am nächsten Morgen zusammen mit ihr in Ruhe die eine oder andere Option für das weitere Fortkommen geprüft hätten. Sicher, wir haben das Beste aus der Situation rausgeholt, aber das Beste muss absolut gesehen nicht auch gut sein.
Und doch huscht ein seliges Lächeln über unsere staubigen Gesichter, als es dann endlich auf die Piste geht und bald danach die letzten Häuser des Ortes das Ende der Zivilisation markieren. Wir sind auf dem Kolyma Highway, der legendären Straße der Knochen, und es geht nach Osten, der kurz unter dem Horizont stehenden Sonne entgegen. Vor uns liegen noch 1500 Kilometer Unwägbarkeit, bis sich unsere Augen am Anblick des Ochotskischen Meeres weiden können.
Unser Lächeln gefriert jedoch schlagartig, als der Fahrer kurz hinter dem Ortsausgang nicht nur die Stereoanlage hemmungslos aufdreht, sondern genauso hemmungslos über die Schotterpiste brettert.
Die beiden Jungs – wie schon gesagt etwa 25 Jahre alt – sind Biertrinker und, wie es aussieht, auch recht forsche Fahrer. Zumindest der eine: Nach knapp 60 Kilometern haben wir die erste Reifenpanne.

Die ersten 200 Kilometer fahren wir auf einer recht passablen Schotterpiste, was unseren Cheffahrer einige Male dazu verleitet, zu spät abzubremsen. Es ist zwar nicht unser Auto, aber wenn wir durch solche Unaufmerksamkeit ein Schlagloch voll mitnehmen und liegen bleiben, tangiert uns das schon. Wir mahnen zu vorsichtiger Fahrweise. Die getönten Scheiben des "Kastenbrotes" beeinträchtigen die Sicht sehr. Wir müssen uns schon tief herunterbeugen um durch das untere Drittel der seitlichen Scheiben die Landschaft sehen zu können.
In Jakutsk haben wir in einem Kartenladen eine sehr detaillierte Karte des Kolyma Highway erstanden. Jede Kurve und jede Brücke, die heute wahrscheinlich gar nicht mehr existiert – die Karte ist neun Jahre alt –
ist darin eingezeichnet. Kurz vor Kyubume nehmen wir einen älteren Mann mit, der sich mit seinem Auto mehrfach überschlagen hat. Außerdem ist er wohl ernstlich an der Schulter verletzt. In der Karte steht neben Kyubume ein rotes Kreuz und wir hoffen für ihn, das dies auch der Realität entspricht. Jedenfalls setzen wir ihn dort ab.

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Kurze Rast am Wegesrand Die Kältepolsteele in Tomtor (-71,2 °C)

Das der Kolyma Highway eine gefährliche Strecke ist, kann man in einigen Quellen nachlesen. Klaus Bednarz bezeichnet sie in seinem Buch "Vom Baikal nach Alaska" als die gefährlichste Straße Russlands. Er schreibt auch, dass die Trasse in ihrer ganzen Länge nur im Winter zu befahren ist. Wir werden sehen! In Kyubume gibt es außer ein paar verstreuten, heruntergekommenen Holzhäusern, einigen Autowracks und jeder Menge verrosteter Autoteile, nichts zu sehen. Wir sind schnell wieder auf der Piste."
Um halb drei nachmittags sind wir in Tomtor. Wir halten direkt an der Kältepolsteele: minus 71,2
°C steht drauf. Das soll die tiefste bisher gemessene Temperatur auf der nördlichen Halbkugel sein.

Kurz hinter Tomtor legen wir unsere erste längere Rast ein. Nach gut 12 Stunden in der Karre auch wohlverdient, denke ich. Am steinigen Flussufer breiten wir unsere gesamten Utensilien aus. Leider zum erstenmal auf dieser Tour und so sitzt noch nicht jeder Handgriff. Auch unsere chinesischen Gasflaschen brauchen eine gewisse Einbrennphase. Als wir uns dann für Nudeln mit Sauce entschieden haben, unser Kochgeschirr geordnet und die Kaffeetöpfe aufgestellt haben, stellt sich jedoch zunehmend die gewohnte Routine ein.

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Am Kiesstrand eines namenlosen Flusses gönnen wir uns nach 12 Stunden eine längere Rast. In solchen Momenten spüren wir den Hauch der Exklusivität unseres Unternehmens:
Selbst hinter den Bergen am Horizont gibt es auf den nächsten 1000 Kilometern keine Straße, keinen Weg , keine Eisenbahn, kein Haus. Die Erde hat nicht mehr viele dieser unberührten Gegenden.

Bei unseren russischen Fahrern läuft das etwas anders ab: Schnell tragen sie ein paar trockene Äste zusammen und zünden sie an – in der einen Hand einen Stock mit einem aufgespießten Wurststück und in der anderen die unvermeidliche Dose Bier. So geht das natürlich auch. Wir kochen erst mal für alle Kaffee – dann kommen die Nudeln dran. Eine Rast am Fluss ist keine Rast, wenn man nicht die Wassertemperatur testet: Schweinekalt! Doch der Staub der Straße läßt uns keine Alternative. Bei 27 °C und strahlendem Sonnenschein kostet es uns auch nur wenig Überwindung. Nach dem Bad im Fluss noch einen Wodka, und dann packen wir langsam wieder zusammen.
Die Landschaft wird jetzt wieder flacher, nachdem wir zwischen Khandyga und Kyubume einige pa
ssartige Wege gefahren sind. Nach jedem Stopp werden, im geschlossenen Auto, routinemäßig die eingedrungenen Mücken dezimiert.

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Der Schein trügt. Teilweise sind diese Brücken in solch schlechtem Zustand, dass sie selbst mit einem kleineren Auto nicht befahrbar sind. Die Rucksäcke und das Zeltbündel sind total verstaubt. Wenn alles glatt läuft, wird es mit dem Zelten am Kolyma Highway wohl nichts werden.

Kurz vor der Grenze zur Region Magadan qualmt es im Motorraum. Ein angeschmortes Kabel! Während die beiden Fahrer den Fehler mit Isolierband beheben, präpariert sich Volker mit Autan – die Klorolle schon griffbereit. Die Flasche nimmt er natürlich mit – es werden ja noch weitere Körperteile freigelegt. Es gibt zwar viele kleine Blaubeersträucher hier, aber es sieht nicht so aus, als würde noch eine reichhaltige Ernte herauskommen. Sie blühen zwar, doch die meisten sind aufgrund der Trockenheit fast gänzlich verdorrt. An den Flussufern liegen teilweise noch ausgedehnte Eisreste. Sie tauen im kurzen Sommer nicht vollständig weg.

In Magadan Oblast wird die Straße schlaglochartig schlechter. Bei den Flussdurchfahrten schwappt die Bugwelle einige Male über die Windschutzscheibe. Befahrbare Brücken existieren nicht, obwohl die eigentlichen Brückenpfeiler aussehen, als wären sie noch intakt, aber die Auf- und Abfahrten fehlen. Trotz der teils spektakulären Flussquerungen, stellen diese nicht das größte Problem dar. Unübersichtlicher, weil in ihrer Tiefe nicht abschätzbar, sind die Schlammseen mitten auf der Piste. Schmelzwasser, das sich an diesen Stellen gesammelt hat. Eine Vertiefung, welche für einen großen LKW der Marke "Ural" kein Hindernis darstellt, kann für unser kleines Kastenbrot schon zum Problem werden – trotz Vierradantrieb, Differentialsperre und höhergelegtem Geländefahrwerk! Einmal ist es fast so weit gewesen – beinahe wäre die Karre umgekippt!

Freitag, 18. Juli 2003

Trotz seiner forschen Fahrweise können wir unserem 1. Fahrer die Übersicht bei Fluss- und Schlammdurchfahrten nicht absprechen. Gut sieben Stunden fahren wir auf solch extremen Pisten, dann stoßen wir auf die Straße Ust-Nera – Magadan. Dies veranlaßt Charly zu einer Art Zwischenfazit:

Volker rechnet anhand der Karte und der geschätzten durchschnittlichen Geschwindigkeit aus, dass wir gegen 1:00 Uhr die Hauptstraße erreichen müssten. Wir erreichen sie aber erst gegen 2:00 Uhr. Dies ist deshalb erwähnenswert, weil wir alle über eine längere Zeit ein erleichtertes (die Karre ist noch nicht steckengeblieben), aber noch kein erlösendes Gefühl (wie weit ist es noch bis zur Straße Ust-Nera – Magadan?) haben.
Seit Frankfurt haben wir alles getan, um unsere Reise zu beschleunigen. Ständig mussten wir mit zahlreichen zeitlichen Rückschlägen fertig werden. Der Druck, diesen schwierigen und unabwägbaren Teil der Strecke so schnell als möglich hinter uns bringen zu müssen, ist enorm (Eine nächtliche Schlafpause haben wir schon als nicht mehr akzeptabel angesehen). Uns ist in dieser Nacht stets gegenwärtig, dass wir mit dieser Geländefahrt jetzt den "point of no return" überschritten haben, ohne sicheres bewohntes Gebiet auf der anderen Seite erreicht zu haben. Unsere Reise musste zügig erfolgen, um bei einer eventuellen Panne in diesem Teilabschnitt möglichst viel Zeit zu haben uns selbst zu helfen. Das bedeutet entweder mehr Zeit zum marschieren zu benötigen oder darauf zu hoffen durch andere Fahrzeuge – die es aber offensichtlich nicht gibt – mitgenommen zu werden.
Um so erleichternder ist die Gewissheit, dass wir uns jetzt in einem Abstand zur Hauptstraße befinden, der zur Not zu Fuß zu bewältigen ist. An Bären oder Wölfe denken wir in diesem Moment nicht. All diese Gedanken währten dank Volkers zu optimistischer Berechnung entsprechend länger. Als wir die Hauptstraße erreichen, verändern sich unsere Gedanken und Vorstellungen erneut. Ohne Würdigung des bereits Geschafften denken wir alle daran, viel ausgelassen und wahrscheinlich Schönes versäumt zu haben:
Jürgen trauert um die nicht stattgefundene Übernachtung in der Wildnis mit der Gewissheit, wilde Tiere um sich zu haben. Norres träumt von einer ausgiebigen Blaubeersuche und anschließendem Pfannkuchen backen in der Taiga. Volker spricht von der Szene, in der das fahle Mondlicht eine eingestürzte Brücke in ein stimmungsvolles Bilderbuchmotiv verwandelt hat, er aber nicht "Halt!" gerufen hat. Und ich ärgere mich darüber, dass wir in Tomtor nicht die Kneipe eines Moslems, die Wetterstation und das Museum besucht haben.
Man kann sich im Nachhinein nur einreden, dass es keinen Spaß gemacht hätte in der mückenverseuchten Gegend zu zelten, nach Blaubeeren zu suchen und die Mondnächte zu genießen. Die Wetterstation läuft sowieso vollautomatisch, das Museum hat bestimmt Ruhetag und der Kneipenwirt ist zwischenzeitlich sicher Imam geworden.
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Gut, dass unsere Fahrer so durchtrainiert sind.
Während dem einen die Straße die volle Aufmerksamkeit abfordert, versucht der andere sich auf die nächste Schicht vorzubereiten: Der Kopf schlägt mit jedem Schlagloch auf das Kissen zurück.
Hinten rechts ein Stahlmast, der die Grenze der Regionen Yakutien und Magadan Oblast markiert. Die Situation  ist typisch für den Kolyma Highway: Die Brücke ist verfallen, das Weiterkommen hängt von der Befahrbarkeit der Furt ab, und das wiederum vom Niederschlag der letzten Tage.

In Susuman fragen wir in zwei hotelähnlichen Bauten nach einem Gulag, das nach unseren Informationen in der Nähe liegen soll. Letztendlich jedoch ohne Erfolg. Es ist zwar etwas außergewöhnlich in Hotels nach Straflagern zu fragen, aber uns fällt einfach nichts besseres ein. Wir wollen unbedingt eine lohnenswerte Unterbrechung der Reise. Aber erzwingen kann man halt nichts. Eine vage aus dem Internet abgeschriebene Bezeichnung des Gulags reicht eben nicht aus.

Frühstück im Staub der Dorfstraße von Jagodnoje! Ein exponierter Platz – wirklich lauschig! Das meinen auch zwei Milizionäre, die unsere Papiere kontrollieren. Ein Grinsen können sie sich jedenfalls nicht verkneifen, ob des Anblicks der vier, Kaffee trinkenden, schon etwas heruntergekommen aussehenden Typen. Sie ordnen uns sicher in die Kategorie Penner oder Verrückte ein. Charly informiert die beiden anhand unserer Papiere und Tickets über unsere Reiseroute. Volker glaubt, dass sie erst von uns abließen, als sie erkannten, dass wir in einigen Tagen das Land wieder verlassen werden. Unsere Fahrer wollen mit der Sache nichts zu tun haben und bleiben in ihrem Bus hocken. Nebenher erkundigt sich Charly noch nach einem Museum, welches ein Privatmann hier in Jagodnoje betreiben soll. Er soll allerhand Sachen über die Gulags in der Gegend zusammengetragen haben. Ein wenig Glück muss auch mal sein: Dank der Unterstützung einiger Jagodnojer finden wir es.
Nach dem Frühstück fahren wir dort vorbei. Es ist jetzt ca. 8:00 Uhr. Den Museumseigner, -gründer und -führer finden wir durch Nachfragen in einem Nachbarhaus. Als er uns sieht, schaut er nur wenig irritiert, auch nicht gerade erfreut; aber dann zeigt er uns gerne sein Museum. Dass wir seinen Namen aus dem Internet haben, scheint für ihn nichts Neues zu sein. Leider spricht er kein Englisch. Er heißt Ivan Panikarov und sein ganzer Stolz – was man ihm aber nicht unbedingt ansieht – ist in einer ca. 50 m² großen Wohnung ausgestellt. Jeder Quadratmeter wird genutzt. Gegenstände aller Art aus den Gulags der Umgebung sind zu finden und die Wände sind zugepflastert mit Bildern, offiziellen Briefen, Plakaten und Devotonalien. Viele dieser Plakate beschäftigen sich auch mit dem großen Vaterländischen Krieg, also dem Kampf der Roten Armee gegen die deutsche Besetzung und dem Sieg über die Wehrmacht. Auch Einzelschicksale werden dokumentiert. Hierzu steht eine riesige Regalwand – ca. 3 m² – mit ca. 200 kleinen Einzelfächern über seinem Schreibtisch. Briefkontakte mit ehemaligen Gulaghäftlingen, auch aus Deutschland, werden hier geordnet aufbewahrt.
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Privatmuseum zur Geschichte der Gulags in einer 50 m²-Wohnung in Jogodnoje

Unsere beiden Fahrer sind zwar mit in die Wohnung gekommen, interessieren sich aber kaum für die Details. Nur an einem Foto, auf dem jemand dargestellt ist, der am ganzen Körper tätowiert ist, bleiben sie stehen und diskutieren. Wir tragen uns in ein Gästebuch ein, welches häufiger kontaktiert wurde, als wir dem Museum zugetraut hätten. Es finden sich kaum deutsche Einträge. Danach entrichten wir noch eine Spende und verlassen das Haus nach gut 45 Minuten.
Die Straße von Susuman nach Magadan ist für hiesige Verhältnisse eine Autobahn
eine fast schlaglochfreie und breite Schotterpiste. So ist es dann auch nur noch eine Frage von Stunden, bis wir die letzten 600 Kilometer bis Magadan hinter uns haben werden. Die Landschaft ist jetzt längst nicht mehr so spektakulär. Links und rechts der Straße türmen sich künstliche Hügellandschaften, die von regen Bergbauaktivitäten während der Gründerzeit des Kolyma Highway zeugen. Obwohl wir die Unwägbarkeiten des schwierigsten Teils des Kolyma Highways lange hinter uns gelassen und dadurch wieder genügend Zeit haben, reizt uns die unwirtlich wirkende Gegend nicht zu einem Stopp oder gar zu einer Exkursion.

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Brücke über die Kolyma

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1500 Kilometer in 39 Stunden

Unsere beiden Fahrer sehen mit ihren kahl geschorenen Köpfen und ihren Tätowierungen – oder sind sie nur aufgemalt – ziemlich martialisch aus. Sie scheinen nur eins im Kopf zu haben: Uns so schnell wie nur möglich in Magadan abzuliefern! Wir lassen sie gewähren. Um 16:00 Uhr erreichen wir den Flughafen von Magadan. Er liegt ca. 60 Kilometer nördlich der Stadt. Hier treffen wir dann auch Valentina, mit der wir schon einige E-Mails ausgetauscht haben. Unsere Tickets erhalten wir morgen in einem Büro in Magadan, sagt sie uns.
Um 18:30 Uhr sind wir in Magadan. Es regnet in Strömen. Wir halten in der Nähe des Busbahnhofs. Um den Jungs die zweite Hälfte ihres Lohnes auszahlen zu können, müssen wir Geld tauschen. Volker und ich marschieren los und wollen uns gleichzeitig nach einer Unterkunft erkundigen.
Gemäß Tachostand haben wir 1505 Kilometer in 39 Stunden auf einer kaum zu bewältigenden Piste hinter uns gebracht – das scheint rekordverdächtig. Wenn auch manchmal Glück dabei war, unsere Fahrer kann man weiterempfehlen.


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