Nachtträume am Baikalsee

Kilometer 132 auf der alten Baikalstrecke – die Rucksackriehmen drücken durch die verschwitzten Hemden auf die Schulterblätter. Die Köpfe angespannt in die Richtung gedreht, aus der schon seit geraumer Zeit ein schwaches, aber nicht zu überhörendes Gejaule zu vernehmen ist, marschieren wir forschen Schrittes auf den Schwellen in Richtung Port Baikal. Wölfe? Wir schauen uns ungläubig an! Schon möglich um diese Jahreszeit und in dieser Gegend. Im Herbst sollen sie besonders angriffslustig sein, gilt es doch sich in Anbetracht des nahen Winters, den Bauch so voll wie möglich zu schlagen. Und das sind noch Winter hier in Sibirien kann ich euch sagen.
Und dann sehen wir Sie – neben der kleinen Hütte auf einem kleinen Nebengleis – als wenn sie für uns dort hingestellt worden ist – eine voll funktionsfähige, manuell zu betreibende Draisine! Ich kann nicht behaupten, dass wir nur ihretwegen diese Tour hier unternommen haben, doch im Unterbewußtseit war dieses Schienenfahrzeug unser steter Begleiter. Das Gejaule nimmt immer mehr zu und geht zunehmend in ein bedrohlicheres Geheul über. Es sind Wölfe – da besteht kein Zweifel! Ohne ein Wort zu wechseln wird das Gefährt auf den Hauptschienenstrang gesetzt und ohne viel Zutun setzt es sich auf der hier leicht abschüssig verlaufenden Strecke in Bewegung. Wir nehmen langsam Fahrt auf. In etwa 50 Meter Entfernung zeigen sich hinter uns einige graue Schatten auf den Gleisen. Ohne auf die Schönheiten der spätnachmittäglichen Baikalstimmung zu achten kauern wir uns auf der Draisine keilförmig zusammen um möglichst wenig Windwiderstand zu bieten. Und wirklich, das Ding wird schneller! Es wird allerdings auch höchste Zeit, dann die grauen Schatten verwandeln sich in ein 10 bis 12-köpfiges, ausgehungertes Wolfsrudel. Einige bange Momente lang sieht es so aus als würde das Rudel näher kommen (die sibirischen Wölfe sind ausgezeichnete Schwellenläufer), doch dann vergrößert sich der Abstand zusehens. Vielleicht ist der Leitwolf in einen Schwellennagel getreten, die hier zu Hauf rumliegen. In rasender Fahrt geht es am Ufer des Baikal entlang. In einer relativ engen Linkskurve heben sogar zwei Räder unseres Schienengefährts vom Gleis ab. Wir haben alle Mühe die Draisine durch gezielte Gewichtsverlagerung auf dem Gleis zu halten. Die Wölfe sind jetzt nicht mehr unser Problem: Wie bekommen wir dieses Teil zum Halten ist nun die entscheidende Frage. Das Zelt! Wiederum ohne Worte wird sofort das Zelt aus dem Packsack gezogen – spinnakerartig aufgebläht vermindert es die Geschwindigkeit schlagartig um 10 bis 20 Stundenkilometer. Nicht viel, aber immerhin genug um vor einem der zahlreichen Tunnel auf der Strecke eine große dunkle Gestalt auf dem Gleis zu registrieren. Ein Bär? Wir schauen uns ungläubig an! Schon möglich um diese Jahreszeit und in dieser Gegend. Im Herbst sollen sie besonders angriffslustig sein, gilt es sich doch in Anbetracht des nahen Winters, den Bauch so voll wie möglich zu schlagen. Und das sind noch Winter hier in Sibirien kann ich euch sagen.
Durch unser Fernglas erkennen wir, dass es sich um einen ausgewachsenen russischen Braunbären handelt. Oh Mann, wat nu? Der lässt uns bestimmt voll auflaufen. Hektische Betriebsambeit auf der Draisine. Glücklicherweise wird unsere Fahrt nicht nur bedingt durch den Bremsfallschirm langsamer: es geht jetzt auch leicht bergauf. Ein Zusammenprall mit dem russischen Bären scheint jedoch trotzdem unvermeidlich. Der Bär als Poller – eine brenzlige Situation!
Als Meister Petz unser Gefährt dann locker mit einer Tatze zum Stehen brachte, schaute er nicht minder verdutzt als wir. An Angriff schien er nicht im Entferntesten zu denken. Weglaufen ist, wie in jeder einschlägigen Abenteuer-Literatur nachzulesen, die schlechteste aller Alternativen. Also halten wir uns auch daran. Ich weiß nicht mehr wer die Idee hatte, aber sie war goldrichtig. In einer unserer Aluflaschen hatten wir einige Beeren für unsere fast kultischen Pfannkuchenzeremonien aufbewahrt. Diese Beeren schütteten wir dem Bären quasi vor die Tatzen. Eine wahrlich lebensrettende Eingebung, denn der Bursche machte sich sofort brummend über das unverhoffte Schmankerl her.
Nur den mittlerweile recht friedlich schmatzenden Bären im Auge, bemerkten wir nicht, wie sich zwei Wölfe mit heraushängender Zunge näherten. Aber irgendwie machten auch die Burschen keinerlei Anstalten uns am Zeug zu flicken.
Vielmehr schien es als warteten sie, ob der große Braune noch was übrig lässt. Gemäß der allgemein bekannten Regel "Beeren für Bären und Wurst für Wölfe" zogen wir eine Salami aus der Tasche und warfen den beiden je eine Hälfte zu. Nun schmatzten auch die Wölfe.
Diese Situation galt es zu nutzen:
Alle Mann auf die Draisine und mit Schleichfahrt in den Tunnel. "Guter Wolf, braver Bär", murmelten wir leise. Als wir zurück blickten glaubten wir in der hellen Tunnelöffnung zu erkennen, dass der Bär mit der Tatze winkte und die beiden Wölfe ihre rechte Pfote hoben.

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